Chris Kraus: Das kalte Blut – Roman

 

Ein wahnwitziger, atemberaubender Familien- und Epochenroman zwischen Satire und Tragödie

Bei der Verleihung des diesjährigen Deutschen Filmpreises ging der Regisseur Chris Kraus trotz acht Nominierungen für seinen Film „Blumen von gestern“ leer aus. Doch er muss sich nicht grämen, denn stattdessen hat der 1963 geborene Filmemacher und Romancier mit „Das kalte Blut“ einen der spektakulärsten deutschsprachigen Romane des Jahres geschrieben. Ursprünglich nur als Drehbuchvorlage für die nächste cineastische Aufführung gedacht, entwickelt dieses 1200-seitige Mammutwerk eine geradezu abartige Faszination. Im Jahre 1974 liegt Koja Solm mit einer Kugel im Kopf in einem Münchner Krankenhaus und erzählt seinem Bettnachbarn, einem an einer Hirnkrankheit leidenden Hippie, die absonderliche Geschichte seiner Familie.

Im baltischen Riga 1909 als Spross einer evangelisch geprägten Adels-Künstler-Familie geboren, gerät Koja in den 30er-Jahren durch seinen von der Ideologie wesentlich mehr überzeugten älteren Bruder Hub in die Fänge der NSDAP. Eine Karriere beim SD und der SS beginnt, für Hub gradlinig, während Koja sich als Künstler durch die Zeit laviert, aber an einem Erschießungskommando nicht vorbeikommt und in der Spionagetätigkeit eingesetzt wird. Gleichzeitig beginnt er eine Liaison mit seiner mit Hub verheirateten Adoptivschwester Ev, aus der Tochter Anna hervorgeht. Ein ebenso gut gehütetes Familiengeheimnis wie die jüdische Abstammung Evs.

Nach dem Krieg geht Kojas Karriere als Spion für die Organisation Reinhard Gehlen, ein Auffangbecken für ehemalige Wehrmachtsoffiziere, aus dem später der Bundesnachrichtendienst hervorging, weiter. Es ist ein an Perversion kaum zu überbietendes Spiel, das Koja als Doppelagent für KGB, BND, Verfassungsschutz und Mossad betreibt, ein auf Verschwörung, List, Intrige, Verrat, Schuld und Lüge aufgebautes Leben, das zwangsläufig in der persönlichen Katastrophe enden muss. Den Regisseur Kraus merkt man dem Romancier Kraus an. Es wimmelt von ausgezeichneten Cliffhangern, ein rasantes Erzähltempo untermauert den wahnwitzigen Inhalt. Langeweile kommt in keinster Phase auf.

In seinen besten Passagen schwingt sich der Roman zur satirischen Stärke eines Heinrich Mann und der Tragödienhaftigkeit Shakespeare’schen Ausmaßes auf. Manchmal wandelt Koja Solm wie ein kluger Narr durch den Roman, manchmal bewegen sich seine grotesken Ausführungen aber auch am Rande des Zynismus. Einen atemberaubenden, akribisch recherchierten, an der eigenen Familienchronik angelehnten Epochen- und Bruderzwistroman schüttelt Chris Kraus mit „Das kalte Blut“ jedoch aus scheinbar leichter Hand wie das fehlende As aus dem Ärmel.

Chris Kraus: Das kalte Blut, Diogenes, Hardcover, 1200 Seiten, 978-3-257-06973-0, 32 €.

Kommentare

  • <cite class="fn">Hans Brink</cite>

    Hallo, danke für diese tolle Buchbesprechung. Sie macht richtig Appetit das Buch selbst zu lesen. Noch eine gute Zeit, Ihr „Literatur Pur auf Radio Westfalica“ Team.

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