Die Sounds & Books-Reviews zu den aktuellen Romanen von Julja Linhof, Sasha Filipenko und Szczepan Twardoch
von Gérard Otremba
Julja Linhof: Krummes Holz
Nach fünf Jahren kehrt der 19-Jährige Jirka, aus dessen Ich-Perspektive Julja Linhof die Geschichte erzählt, in seine südwestfälische Heimat zurück. Trotz vehementer Bitten seiner vier Jahre älteren Schwester Malene, sie nicht allein mit dem Vater auf dem elterlichen Hof zurückzulassen, blieb Jirka unverdrossen all die Jahre im Internat. Nun ist Malene sauer auf ihn, sein Vater spurlos verschwunden, und auch zwischen Jirka und Hofverwaltersohn Leander kommt es zu Streitigkeiten. Juljia Linhof deckt in ihrem beachtenswerten und zu Recht mit dem Aspekte-Literaturpreis 2024 ausgezeichneten Debütroman „Krummes Holz“ peu à peu die verletzten Seelen der Hauptfiguren auf, die unter dem herrischen und zu Gewalt neigenden Vater zu leiden hatten.
Die 1991 geborene Autorin erzählt die in den frühen 80er spielende Story mit einer einfühlsamen und ruhigen Sprache, die mithin eine faszinierende Sogkraft auf die Leser ausübt. Doch trotz der Schwere des Sujets, trotz der in jungen Jahren lädierten Protagonisten bleibt im letztlich doch liebevollen Umgang untereinander die große Hoffnung für Jirka, Malene und Leander. Es herrscht ein brütend heißer Sommer im Heimkehrjahr Jirkas, doch Sie können „Krummes Holz“ getrost auch in der Winterzeit lesen. Wir hoffen auf mehr solch ausgezeichneter Literatur von Julja Linhof.
Julja Linhof: „Krummes Holz“, Klett-Cotta, Hardcover, 272 Seiten, 978-3-608-96609-1, 22 Euro. (Beitragsbild
Sasha Filipenko: Der Schatten einer offenen Tür
Eine Selbstmordserie unter jugendlichen Heimbewohnern hält das sibirische Städtchen Ostrog und ganz Russland in Atem. Um Licht ins Dunkel der mysteriösen Suizid-Fälle zu bringen, reisen die Moskauer Kommissare Koslow und Fortow in die Provinz. Vier junge Menschen sind bereits tot und der gutgläubige und gutmütige Sonderling Petja wird von der einheimischen Polizei der Morde beschuldigt, die er nach fürchterlichen Foltermethoden auch zugibt. Dass Petja nur als Bauernopfer herhalten muss, wird Koslow, der zehn Jahre zuvor schon in Ostrog tätig war, schnell klar. Eine andere Spur scheint vielversprechender.
Alle toten Kinderheimbewohner gehörten zu einer vom Bürgermeister ans griechische Meer geschickten Gruppe. Nach der Wiederkehr kamen die Kinder nicht mehr mit dem Alltag zurecht, es gab Fluchtversuche und verheerende Zwangsbehandlungen. Der neue Roman von Sasha Filipenko („Kremulator“, „Die Jagd“, „Der ehemalige Sohn“, „Rote Kreuze“) basiert auf wahre Begebenheiten. Filipenko macht daraus einen in 24 Gesänge aufgeilten, teils heftigen Krimi, der in aller Deutlichkeit systematischen Machtmissbrauch in Russland aufzeigt. Und bleibt weiterhin ein wichtiger du mutiger Regimekritiker.
Sasha Filipenko: „Der Schatten einer offenen Tür“, Diogenes, übersetzt von Ruth Altenhofer, Hardcover, 272 Seiten, 25 Euro.
Szczepan Twardoch: Kälte
Es wird einem schon kalt beim Betrachten des Covers. Und noch vielmehr Kälte bleibt nach der Lektüre von Szczepan Twardochs neuem Roman zurück. Nach dem Kieler Matrosenaufstand geht Konrad Widuch mit seiner zukünftigen Frau, der Revolutionärin Sofie, nach Russland. Wie viele andere, erleben sie unter Stalin in den 30er-Jahren Schiffbruch. Sofie kann mit den Kindern fliehen, während Konrad im Gulag in der Taiga landet. Er kann sich befreien und trifft auf seiner Flucht in Cholod auf das sibirische Urvolk der Ljaudis, das in einer rohen, wilden und brutalen Stammeswelt jenseits der Zivilisation lebt und noch nichts von Stalins Diktatur ahnt. Und so muss er warnen, als zwei sowjetische Wissenschaftler die Siedlung entdecken: „Russland ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, das heißt in Scheiße.“
Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch war schon in den vorangegangenen Romanen („Morphin“, „Drach“, „Der Boxer“, „Das schwarze Königreich“, „Demut“) nicht um eine direkte Sprache verlegen. Mit den Beschreibungen des Lebens des atavistischen Taiga-Volkes sowie des stalinistischen Terrorregimes verlangt er seinen Lesern aber nun wirklich alles ab. In der philosophischen Hinterfragung seines Protagonisten hervorragend, aber in der expliziten Darstellung zu krass.
Szczepan Twardoch: „Kälte“, Rowohlt Berlin, übersetzt von Olaf Kühl, Hardcover, 432 Seiten, 978-3-7371-0188-2, 26 Euro.