Beklemmende „Auerhaus“-Fortsetzung von Bov Bjerg
Der Erzähler aus Bov Bjergs im Jahr 2015 veröffentlichten, und bei Sounds & Books rezensierten Adoleszenzromans „Auerhaus“ kehrt in seine schwäbische Heimat zurück. Gut dreißig Jahre liegen seit den tragischen Geschehnissen zurück. Herr Höppner wohnt in der Zwischenzeit in Berlin, hat den Namen seiner als Juristin arbeitenden Frau angenommen, genießt als Soziologe einen guten Ruf und ist Vater eines sich im Grundschulalter befindlichen Sohnes, der ihn auf dieser Reise begleitet. Zwangsläufig gerät der Trip zu einer Vergangenheitsbewältigung. Mithin zu einer deprimierenden.
Herr Höppner rechnet ab
Der Grabstein seines in „Auerhaus“ aus dem Leben geschiedenen Freundes Frieder ist fort, „als ob er nie begraben worden wäre“. Erinnerungen wallen auf an die preußisch erzogenen männlichen Vorfahren, die vom Urgroßvater bis zum Vater durch Suizid verstarben. Erinnerungen an Gewalt, Alkohol und Depressionen, bei seinem Vater, bei den Vätern der Nachbarskinder. Die Parallele zur Gegenwart: Der Ich-Erzähler ist selbst depressiv, wird von Schuldgefühlen geplagt und eine Dose Bier ist immer irgendwie dabei. Mordphantasien seinem Sohn gegenüber schwirren durch seinen Kopf und die Nazi-Vergangenheit seiner Familie wird zu einer Obsession. Und immer wieder rechnet Herr Höppner mit der Welt ab: „Ich vertrug das Fliegen nicht. Ich vertrug nicht einmal das Bahnfahren. Von allen Seiten schallte das Gebell der Führungsmänner, der Leader, der Abteilungsleiter, die ihren Untergebenen und ihren Mitführern, all ihren Mitminihitlers am Telefon die Welt erklärten, in den Großraumabteilen der Bahn und an den Gates und in den Flughafenbussen. Männer mit Einfluss oder mit etwas, das sie dafür hielten.“
Bov Bjerg im Stop-and-Go-Tempo
Vermittelte Bov Bjerg in „Auerhaus“ trotz teilweise ähnlicher Themen noch eine fast entspannt-heitere Atmosphäre, entpuppt sich „Serpentinen“ als eine dunkle und beklemmende Art von Fortsetzung. Nicht mal eine Millionenstadt konnte den heimatlichen und spießbürgerlichen Mief, sowie alle seine fürchterlichen Geister, mit denen der Protagonist aufwuchs, vertreiben. Auch stilistisch geht Bjerg wesentlich radikaler vor. Die Sätze sind noch komprimierter strukturiert, die Dialoge scharfsinnig und kompakt. In kurzen Absätzen wechselt Bov Bjerg von der Vergangenheit zur Gegenwart, manche Kapitel enthalten nur einen einzigen Satz.
Selten erlaubt sich Bjerg einen erzählerischen Strom wie beispielsweise in der Suada seines (Anti-)Helden gegen den Wissenschaftsbetrieb. Im perfekt ausbalancierten Stop-and-Go-Tempo fährt er die Serpentinen des Lebens ab. Ein durchweg beeindruckender und von Metaphorik durchtränkter Roman, eine brutal-zärtliche Vater-Sohn-Geschichte und ein Kandidat für die Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Bov Bjerg: „Serpentinen“, Claassen bei Ullstein, Hardcover, 272 Seiten, 978-3-546-10003-8, 22 Euro.
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