Black Lips: Apocalypse Love – Albumreview

Black Lips Credit Alexandra Cabral Fire Records

Das neue Album von Black Lips, “Apocalypse Love“, entzieht sich jedem Albumkorsett und eröffnet surreales Terrain

Flimmern. Ungesättigtes Schwarz. Das Knarren einer antiken Holztür geleitet mich an das Set eines Warhol-Streifens. Abfolgen hedonistischer Portraits in matschigen Farben einer alten Röhre. Subliminalbilder von Bela Lugosi beeinflussen meinen Blick. Körperlich bin ich nicht anwesend, nehme nur wahr. Eine Notiz von Woody Guthrie verrät, er habe den nächsten Zug genommen und sei auf dem Weg an die Front. Der Song hierzu erklingt in meinem Kopf, als käme er aus einem kleinen Transistorradio. Grelle Neonscheinwerfer schwenken über mein Gesicht, schließlich auf den Sunset Boulevard, wo eine schwarzhaarige Marlene Dietrich zu Pferd vor einer Gruppe summender Revolutionäre herreitet. Ein riesiges, in tiefster Dunkelheit hängendes Plakat bewirbt diese Szenerie als Fiktion.

Black Lips zehren von Genrebefreiung und Gruppendynamik

Eher fernab vom Mainstream hangeln sich die Black Lips seit nunmehr über 20 Jahren in wechselnder Besetzung durch die Musikwelt. Erstaunlich sind hierbei zwei Dinge, die sich auf den ersten Blick widersprechen: zum einen scheinen sie sich stetig neu zu (er)finden, zum anderen bleiben sie gerade dadurch ganz sie selbst. „Whether we’re doing an electronic song or a country song, it’s all filtered through us, there’s a distinctive way that we do stuff”, statuiert Band-Urgestein Jared Swilley. Das Genre ergibt sich demnach aus der Seele eines jeden Songs, zunächst ohne Blick auf das Album; der spezifische Ausdruck der Band hält dies alles zusammen.

Die seit Jahren zunehmende stilistische Diversität und das erneute musikalische Wachsen auf dem neuen Album führt Cole Alexander – neben Swilley einziges Gründungsmitglied – auf das seitdem starke Line-up zurück. „Everyone in the band writes, so it gave us the chance to grow into that.“

Punk-Ursprünge der Black Lips hört man zwischen den Zeilen

Black Lips Apocalypse Love Cover Fire Records

“Lost Angel“ überstrahlt als düster-pompöse Hymne auf all jene in den Flammen dieser Welt verschütt gegangenen Seelen. Zumi Rosows schwarzromantischer Gesang, eine Slidegitarre à la Link Wray und monotone Synthie-Klänge geben den Grundton an; ausladende Drums hallen im Hintergrund wie schwere Kanonenschüsse in der Nacht. Der titelgebende Track fungiert mit Twang-Gitarre als sentimentales Gegenstück hierzu.

Im subtil verrätselten “Whips Of Holly“ schlafwandeln von Trug und Gewalt betäubte Stimmen durch die endlosen Irrwege einer Metropole. Inmitten dieser Endzeitvisionen groovt “Sharing My Cream“ mit 80’s Lo-Fi Rap, Drum Machine und Audiosamples dazwischen; ein erfrischend absurder Moment, der jene kompromisslos individuelle Songausrichtung der Black Lips nochmals auf den Punkt bringt. Aufgeputschte Gedanken in “Antiaris Toxicaria“ lassen die Ungewissheit umherfliegen. Dieser beschwingende Powerpop kommt in ähnlicher Konsequenz daher wie der Hank-Williams-Gestus bei “Stolen Valor“; als hätten die Black Lips nie etwas anderes gespielt.

Rock’n’Roll aus dem Kaninchenloch

Ich erinnere mich an eine kitschige Strandtapete meiner Oma und an eine Verabredung in den Dünen. Als ich dort ankomme, geht gerade die Sonne auf, doch niemand ist da. Wieder im Auto meiner Freunde ertönt ein getriebener Funk-Rhythmus vom Rücksitz, als wir entlang der Küste zurück in die Nacht fahren. Voller Kummer und Alkohol sitzen wir in einer fast leeren, verrauchten Spelunke. Der Barkeeper stellt bereits die Stühle hoch, während sich auf der Bühne ein unbekanntes Gesicht an einem eigenen Song versucht. Lou Reed dreht sich zu mir und betont, dies sei ein verdammt guter Album Closer. Schräge Saxophonklänge schlieren durch den Raum wie Lichter auf einer nassen Autofrontscheibe und führen mich aus dem musikalischen Tagtraum.

„Apocalypse Love“ von Black Lips erscheint am 14.10.2022 bei Fire Records / Cargo Records (Beitragsbild: Alexandra Cabral)

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