Ein Buch, das Hörgewohnheiten verändern kann: Der Autor Björn Gottstein stellt kenntnisreich die bedeutendsten Werke und Personen der Neuen Musik vor – und steckt mit seiner Begeisterung an
von Sebastian Meißner
Das Interesse von Menschen, die sich viel mit Musik beschäftigen, wandert im Laufe der Zeit weg von der Mitte und hin an die Ränder. Dorthin, wo das Nichtnaheliegende zu finden ist, das Seltsame und Unerhörte. Neue Musik will genau das: neue Wege gehen, das Bekannte überwinden. Sie entstand vor über 100 Jahren mit den ersten atonalen Kompositionen. Und auch wenn sich dieses „Genre“ in den letzten Jahrzehnten rasant ausdifferenziert hat – und heute vom radikalen Experiment bis zum Genre der Classical Contemporary reicht – so haben doch alle in ihm vertretenen Musiken etwas gemeinsam: Sie verschieben die bekannten und erprobten Grenzen von Tonalität, Metrum oder Klangschönheit und bieten Neues an.
Björn Gottstein kennt sie alle
Für Interessierte und Neueinsteigende ist das Feld heute kaum mehr zu überblicken. Umso wertvoller ist dieses Buch von Björn Gottstein, Musikwissenschaftler, Kurator und langjähriger Redakteur für Neue Musik beim Südwestrundfunk. Sein umfassendes Wissen über Neue Musik, die wichtigsten Komponierenden, Strömungen, Werke, Orte und Musikschaffenden sowie seine ungebrochene Begeisterung für Neue Musik machen „Der Klang der Gegenwart“ zu einem begeisternden Buch und Ratgeber. „Wer ein Buch über Neue Musik schreibt, der schreibt zwangsläufig auch immer über sein eigenes Hören“, schreibt der Autor im Vorwort.
Genau dieser Ansatz hilft es, seine Herangehensweise und Wertschätzung für diese Musik nachzuvollziehen. Björn Gottstein versteht es ganz hervorragend, musikwissenschaftliches Faktenwissen mit biografischen Daten und persönlicher Bewertung zusammenzubringen. Des Autors Wunsch, dass man sich nach der Lektüre dieses Buches „einigermaßen souverän über Neue Musik unterhalten und Werke im Konzertsaal auch einordnen“ könne, dürfte sich erfüllen. Denn die zahlreichen unterhaltsamen Anekdoten hat Gottstein in eine sinnvolle Kapitelstruktur gepackt, die sich mal zeitlich-chronologisch, dann örtlich und stilistisch begründet. Auch deshalb bleibt das Verständnis und der Unterhaltungsfaktor dieses Buches hoch.
Tür- und Augenöffner
Wer wie ich kaum mit Neuer Musik zu tun hatte, wird sich an vielen Stellen wundern, wie eng die Verbindung zu anderen Spielformen wie Jazz oder Pop an vielen Stellen ist und sich ansonsten mit Begeisterung all den unbekannten Namen und Werken widmen können, die hier so anschaulich beschrieben werden. Viele der Werke (zum Beispiel „Music For 18 Musicals“ von Steve Reich, „Einstein On The Beach“ von Philipp Glass, „Pulse Music“ von John McGuire) gehören zu den von mir seither meistgehörten. Dieses Buch hat mir eine Tür geöffnet und so mein Sichtfeld deutlich erweitert. Seither sieht alles anders aus und hört sich vor allem anders an.
Björn Gottstein: „Der Klang der Gegenwart – Eine kurze Geschichte der Neuen Musik“, Reclam Verlag, Hardcover, 272 Seiten, 978-3-15-011320-2, 28 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)