Ein Mega-Jackpot für alle: Das Doppel-Album „Live At Festhalle Frankfurt“ der kanadischen Rockband Billy Talent
von Michael Thieme
Es gibt Momente, da möchte man sich selbst schlagen. Mit aller Wucht. Macht man natürlich nicht, genauso wenig wie man das bei anderen tut – aber dieses Gefühl, völlig versagt zu haben; eine grundfalsche Entscheidung zu treffen, die man nicht mehr korrigieren kann – das tut so weh, dass eine heftige Schelle gegen die eigene Wange verspricht, davon Linderung zu verschaffen. Was für ein Ärger. Und das bereits zum zweiten Mal.
Vertonter Mega-Jackpot
Hintergrund: Ich wohne (wieder) unweit der Frankfurter Festhalle – der „Gut‘ Stubb“, wie Hiesige dazu sagen. In sieben von
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zehn Fällen inzwischen Herberge von Schlager, Deutsch-Rap- oder Comedy-Stars. Manchmal verirren sich jedoch auch noch Rockmusikanten hierher. Häufig welche, die Gegendemonstrationen vor der Halle provozieren oder dieses dringend sollten. Manchmal, ganz selten, gastieren hier hervorragende, stabile Acts, die gut im Geschäft sind und dabei immer noch Underground-Credibility genießen, großartig abliefern UND tolle Menschen sind. Mega-Jackpot also. Die Vertonung eines solchen haben wir hier vor uns. Für alle, die dabei waren herrscht sowieso unbedingte Kaufempfehlung. Für alle anderen allerdings auch. Ich hingegen sollte sie mir mehrmals kaufen, um zu sühnen, was ich mir selber antat an diesem Freitag, den 25.11.2022; an dem ich beschloss die wenigen Meter Luftlinie zum Veranstaltungsort, der durch die Wahl der Special Guests Pabst und Johnossi zusätzlich an Attraktivität gewann, aus was für Gründen auch immer, nicht zu gehen.
Inkludierender Spaß ohne „Awareness-Teams“
„Bei einem Billy Talent-Konzert passen wir aufeinander auf. Wenn ihr seht, dass jemand fällt, helft aufzustehen. Wenn sich jemand unwohl fühlt, checkt ob alles ok ist.“ Das hat Billy Talent-Stimme Benjamin Kowalewicz schon so formuliert, als sie 2003 auf ihrer Clubtour durch Deutschland diese bereits zum Einsturz brachten und noch Fugazi coverten, um ihr Set zu strecken. Eben hier, in Deutschland, ging der Weg der Kanadier immer steil nach oben: die Clubs wurden größer, die Hallen ebenso. Die relevanten Festivals mit Punk- bzw. Alternative-Rock-Beteiligung buchen sie so oft wie möglich, das Magazin Visions zählt sie zu ihren Lieblingsbands, die sie kontinuierlich unterstützen. Das machen die nur mit richtig guten Formationen.
„Live At Festhalle Frankfurt“ bietet anscheinend uncut alle 21 dargebrachten Stücke der Setlist, die sich aus allen vergangenen Veröffentlichungen zusammensetzt, wobei die aktuelle Scheibe „Crisis Of Faith“ sowie „Billy Talent II“ von 2006 mit sechs bzw. sieben Stücken den Programm-Schwerpunkt bilden. Crowdpleaser wie „Rusted From The Rain“ von „Billy Talent III“ fehlen ebenso wenig wie die Punk-Hymne „Try Honesty“ vom Debüt. Ebenso scheinen die Ansagen Kowalewiczs komplett zu sein – final kann ich es nicht beurteilen, weil ICH WAR JA NICHT DABEI, verdammte Axt.
Billy Talent spenden Trost. Sogar mir.
„As time goes on, this will get better“ trösten mich Billy Talent bei „I Beg To Differ“, dem dritten Song dieses fulminanten Live-Statements. So wie alle anderen Anwesenden in der ausverkauften Festhalle, die nicht nur bei diesem Stück lauthals mitsingen. Irgendwas war/ist diesbezüglich ja immer. Ein weiser Mann in einer sonst eher durchschnittlichen TV-Serie merkte dazu einmal an: „Entscheidend ist, was Du als nächstes tust“. Vielleicht tun mir Billy Talent den Gefallen und geben mir irgendwann die Chance zur Korrektur. Auf Bob Seger warte ich aus dem gleichen Grund nach 1980 jedoch noch immer.
„Live At Festhalle Frankfurt“ von Billy Talent erscheint am 16.06.2023 bei Warner Music. (Beitragsbild von Dustin Rabin)