Billie Eilish: Happier Than Ever – Albumreview

Billie Eilish by Kelia Anne MacCluskey

Das zweite Album von Billie Eilish hat das spürbare Potential für echte Grower

Mit ihrem heute erschienenem zweiten Album ist die 19jährige Billie Eilish bereits ein medialer Gigant, dem nicht nur besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bei solchen steigt die Gefahr im Vorfeld geleakter Tonschnipsel, weswegen die Musikjournaille keine Vorabkopien der Platte bekam – anscheinend noch nicht mal die Presse-Größen, die in diesem Monat Eilish auf dem Titel präsentieren. Plattenkritiken? Fehlanzeige, die kommen erst ab dem heutigen Erscheinungstag. Trotzdem haben sich bereits Legionen von Fans mit Allem beschäftigt, was es vorher oder seit Mitternacht gab – die Singles, die Texte, die begleitenden Worte von Eilish selber, die man in ihren diversen sozialen Profilen findet oder sogar beim Streaming-Dienst-Spotify, bei dem man das Album in diversen Editionen zu Hören bekommt, u.a. auch mit Kommentar nach jedem Song.

Das Medienphänomen Billie Eilish

Das Portal Genius, bei dem man die Songtexte beim Hören mitlesen kann, verzeichnet am frühen Morgen schon tausende Sichtungen sowie Hunderte von Kommentaren und präsentiert darüber hinaus massenweise Übersetzungen in andere Sprachen. Das meiste, was ich hier sonst lesen möchte, hat sogar nach Jahren höchstens zweistellige Besucherzahlen. Nur, um mal für Unkundigere festzuhalten, von was für einem Medienphänomen wir hier reden. Eilish sprach mit ihrem Debüt 2019 den Kids, vor allem den Mädchen, mit ihren Texten aus dem Herzen und begeisterte mit ihren, von Bruder Finneas produzierten und co-verfassten Stücken Musikliebhaber auch älterer Generationen. Plattenfirmen schmissen sich an die beiden ran, etablierte Songschreiber mit Charterfolgen wurden aufgeboten und alle sind bei dem Duo abgeblitzt. Die basslastigen Lieder des Debüts hatten solche Hilfe nicht nötig und zogen verwässerungsfrei sowie eigen um die Welt.

Die Todesangst

Billie Eilish Happier Than Ever Cover Universal Music

Album Nummer zwei nun, vielleicht das am meisten erwartete der Welt gegenwärtig. Die Geschwister arbeiteten weiter unabhängig, nun aber gegen oder mit enormen Erwartungshaltungen, die man nicht erfüllen kann, wenn man das Gleiche noch mal macht. Der vibrierende Soundoverkill des Debüts ist nur noch vereinzelt spürbar („NDA“, „Oxytocin“), beswingte („My Future“) oder melancholische, zarte Gitarrenklänge („Your Power“) mischen sich vermehrt ins Bild. „Everybody Dies“ beschreibt die Todesangst dieser gerade mal Neunzehnjährigen und schafft es, trotz aller musikalischer Creepyness sogar Hörende zu trösten, die das Licht des herannahenden Zuges schon aufgrund ihres Alters weit stärker aufleuchten sehen. Fotos wie Videos offenbaren darüber hinaus eine optisch veränderte Eilish, die Jens Balzer im aktuellen Rolling Stone seitenweise über die Symbolik der Klamottenfarbe Beige sinnieren und die bunte Teenies erschrocken aufhorchen ließ.

Die Galionsfigur Billie Eilish

Dabei offenbaren vor Allem ihre Texte, wie relevant sie als Künstlerin gerade auch für dieses Klientel ist: Eilish antwortet auf das Vereinnahmen der Medien, dem Gepöbel im Internet neben weiteren Auswüchsen zunehmender Berühmtheit mit ihren Songs und setzt Statements, die sie wahrscheinlich immer noch zur Galionsfigur unzähliger junger Menschen werden lässt, trotz monochromatischerer Töne in Outfit oder Frisur. Die aktuelle Single „NDA“, dessen Video Eilish selber gedreht hat, beschreibt eine Begegnung mit einem Stalker und geht nahtlos über in „Therefore I Am“, bei dem Eilish sprechsingend klarmacht, dass sie mit den Erwartungen Außenstehender nichts zu tun hat. Überhaupt kann man „Happier Than Ever“ durchaus als Konzeptalbum lesen zum Thema medialer Aufmerksamkeit und die Veränderungen, die man deswegen durchläuft.

Böse Zungen könnten ihr damit Egozentrik vorwerfen, dabei sind dies Statements und Geschichten, wie sie gesellschaftlich aktueller kaum sein könnten, zumindest in der privilegierten, sogenannten ersten Welt. Alle großen Stars haben solche Probleme, besonders weibliche. Niemand hat das (meines Wissens nach) so detailliert analysiert wie Billie Eilish auf dieser Platte. Selten auch, in welchem Maß Eilish ihren Fans in den sozialen Medien Einblicke gibt in den Produktionsprozess und ihre Intentionen, die trotzdem noch jede Menge Spielraum zum Interpretieren lassen.

Ein Album, das durch lyrische Selbstreflexion besticht

Das Debüt war ein besonderer Einschlag im Pop-Universum, der Zweitling besticht vor allem damit, dass er nicht versucht, Erfolgreiches weiter auszureizen oder zu kopieren. Stattdessen stellt „Happier Than Ever“ ein Werk dar, das vor allem lyrisch durch die Selbstreflexion der Künstlerin besticht sowie mit der Analyse nicht nur ihrer veränderten Lebensrealität, sondern von allen jungen, medienaffinen Frauen mit der ubiquitären Misogynie oder Übergriffigkeit, welcher diese ausgesetzt sind. „Musik zur Zeit“ stand früher auf der Spex, Eilish hätte dort eine Titelstory verdient. Dass die Platte darüber hinaus auch ohne diesen Kontext sehr gut hörbar ist und Spaß macht, macht sie natürlich nicht unbedeutender. Die musikalische Zündung, die das Debüt verursachte, bleibt zwar bisher aus, doch das Potential für echte Grower ist schon nach dem dritten Durchlauf spürbar.

„Happier Than Ever“ von Billie Eilish erscheint am 30.07.2021 bei Interscope / Universal Music. (Beitragsbild von Kelia Anne MacCluskey)

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