Klassischer, amerikanischer Roman in der Tradition von Stewart O’Nan
Und am Anfang steht die Tragödie. In der Nacht vor der Hochzeit ihrer Tochter verliert die 52-jährige Galeristin June Reid bei einem Hausbrand alle ihr nahe stehenden Menschen. Ihr zwanzig Jahre jüngerer Freund, ihre Tochter, deren Bräutigam sowie ihr Ex-Gatte verlieren das Leben, nur Reid überlebt. Schwer traumatisiert verlässt sie den Ort der persönlichen Katastrophe, das kleine Städtchen Wells in Connecticut, und sucht ihr Heil in der Flucht an die nördliche Westküste, wo sie sich im selben Zimmer eines kleinen Motels einquartiert, in dem ihre Tochter mit ihrem Freund einst nächtigte.
June Reids Leben in Wells war kein einfaches. Nicht nur hätte ihr Freund Luke Morley alterstechnisch ihr Sohn sein können, er war außerdem ein ehemaliger Strafgefangener und der uneheliche, schwarze Sohn der „Stadtschlampe“, wie sich seine Mutter Lydia halbironisch an einer Stelle des Romans selbst nennt, und die von den Kleinstadtbewohnern schon immer argwöhnisch betrachtet worden ist. Nach der Katastrophe branden sehr schnell Gerüchte, halbgare Vermutungen und nicht nachweisbare Tathergänge auf. Übelster Kleinstadttratsch, dem sich June Reid durch Flucht entzieht und trotzdem Zuspruch erfährt.
Behutsam nähert sich der Literaturagent, der u.a. Nicole Krauss und Andrew Sean Greer entdeckte und in „Porträt eines Süchtigen als junger Mann“ von seiner Drogensucht berichtete, in seinem Debütroman aus verschiedenen Perspektiven den Biographien der Unfallopfer und Hinterbliebenen. Clegg widmet die Kapitel einzelnen Personen, Freunde, Nachbarn und Vermieter kommen in diesem fabelhaften Episodenroman ebenso zu Wort wie die Angehörigen, und wechselt dabei zwischen auktorialer und Ich-Erzählstimme.
Es spielen noch weitere Schicksalsschläge eine Rolle in Fast eine Familie, doch nie artet Bill Cleggs Stil in kitschige Befindlichkeitsprosa aus. Schnörkellos und trocken, aber dabei immer empathisch und emphatisch erzählt Clegg seine Geschichte. Fast eine Familie ist ein sehr gut komponierter, klassischer amerikanischer Roman über die Zerbrechlichkeit des Lebens, über Einsamkeit und Schuldgefühle. Er war sowohl für den Man Booker Prize also auch für den National Book Award nominiert und erinnert an die besten Werke von Stewart O’Nan, also an „Engel im Schnee“ und „Alle, alle lieben dich“.
Bill Clegg: „Fast ein Familie“, S. Fischer, aus dem amerikanischen Englisch von Adelheid Zöfel, Hardcover, 320 Seiten, 978-3-10-002399-5, 22 €.