Sie werden Olga lieben
Die ersten literarischen Begegnungen mit Bernhard Schlink waren durchweg positiver Art. Die beiden Kriminalromane Selbs Justiz, noch gemeinsam mit Walter Popp geschrieben, und Selbs Betrug waren Mitschuld an einem persönlichen Krimiboom in den 90er- und Nuller-Jahren. Mit Selbs Mord beendete Schlink 2001 die Trilogie um den in Mannheim lebenden Privatdetektiv Gerhard Selb, eine kurze, aber Maßstäbe setzende Reihe in der deutschen Kriminalromanhistorie. Dazwischen lag selbstverständlich der in über 50 Sprachen übersetzte Welterfolg Der Vorleser, der es sogar in der amerikanischen Übersetzung verdientermaßen bis auf Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste schaffte.
Auch im Erzählband Liebesfluchten bewies Bernhard Schlink seine literarischen Fähigkeiten, bevor Das Wochenende dann doch hinter den Erwartungen zurückblieb und Die Frau auf der Treppe zum Ärgernis mutierte. Doch mit Olga ist wieder alles anders und besser. Sie werden Olga lieben. An der kurzatmigen Prosa Schlinks hat sich nichts geändert. Allerdings vermag er seinen Protagonisten wieder Leben einzuhauchen, und ja, auch Sympathiewerte auf den Weg zu geben, etwas, das bei Die Frau auf der Treppe gleich bei vier Hauptpersonen nicht funktioniert hat, deren Selbstgerechtigkeit, mangelnde Entwicklungsfähigkeit und penetrante Charakterlosigkeit schnell einen enervierenden Punkt erreichten. Von all dem bleibt Olga verschont. Der in drei Teile gegliederte Roman beginnt mit dem Lebensentwurf Olgas vom Ende des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem 2. Weltkrieg. Olga Rinke wächst in Breslau auf und zieht nach dem frühen Tod ihrer Eltern zu ihrer abweisenden Oma in ein Dorf in Pommern.
Dort reift sie als Außenseiterin zu einer für ihre Zeit fortschrittlichen und selbständigen jungen Frau, die es ohne finanzielle Mittel und nötige familiäre Unterstützung, aber mit viel Willen und Klugheit auf eine höhere Mädchenschule schafft, Lehrerin wird, die Sozialdemokraten wählt und dem Nationalismus und von Bismarck angeleierten deutschen Größenwahn skeptisch gegenübersteht. Sie lernt als Kind den Gutsherrensohn Herbert kennen, der lieber läuft als geht und dessen Rastlosigkeit sich ins Erwachsenalter zieht. Er wird Reisender und Abenteurer und aus der Jugendfreundschaft zu Olga wird die große Liebe. Eine von Herberts gutsituierten Eltern nicht akzeptierte und somit nicht in eine Ehe überführbare Liebe. Herberts Sehnsucht nach der Ferne wird ihm zum Verhängnis, nach einer Expedition in die Arktis bleibt er ab 1913 vermisst. Im zweiten Teil kommt die persönliche Note ins Spiel, denn Olga – seit 1936 taub – war nach dem Krieg als Näherin im Hause des Erzählers Ferdinand angestellt, der nun konsequent die Ich-Perspektive einnimmt.
Trotz ihres gesundheitlichen Handicaps bleibt Olga bis zu ihrem tragischen Tod mit fast 90 Jahren eine gute Freundin des Erzählers, der Jahre später an Briefe gerät, die Olga zwischen 1913-1915, sowie ein paar verstreute in den Jahrzehnten danach, an Herbert schrieb. Diese Briefe sind Teil drei dieses vorzüglichen und charmanten Romans. Nicht nur lösen sie einige, bis dato verborgenen Details aus Olgas Beziehung zu Herbert auf und klären ihren Unfalltod, sie sind mithin von einer zärtlichen, sehnsüchtigen und doch klaren und bestimmenden poetischen Art, zwischen Hoffnung, Sehnsucht und Ärger changierend.
Olga steht immer mitten im Leben, bewahrt sich jedoch in ihrem Blick auf das Zeitgeschehen eine gewisse ironische Distanz. Nicht nur Olgas Briefe, der ganze Roman ist zutiefst berührend und herzergreifend. Zwar spult Bernhard Schlink gut hundert Jahre in lediglich 300 Seiten ab, aber ein Freund der großen Ausschmückung war der 1944 in Bielefeld geborene Jurist und Schriftsteller noch nie. Vielmehr funktioniert hier wieder die Romankonstruktion, das Timing, die Charakterzeichnungen. Immer wieder arbeitet sich Bernhard Schlink an der deutschen Geschichte ab, mit Olga so gewinnend wie lange nicht mehr. Olga ist eine Verbeugung vor dem weiblichen Geschlecht, gleichzeitig ein lesenswerter Geschichtsroman und einer der zauberhaftesten Liebesromane der letzten Jahre. Bernhard Schlinks bester Roman seit Der Vorleser.
Bernhard Schlick: „Olga“, Diogenes, Hardcover,320 Seiten, 978-3-257-60876-2, 20,99 € (Beitragsbild: Bernhard Schlink by Alberto Venzago, Diogenes Verlag).