Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen – Zehn Geschichten

Benedict Wells Heymann 2016

Die hohe Fabulierkunst des Benedict Wells

Benedict Wells entwickelt sich sukzessive zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren der deutschsprachigen Literatur. Galt er für seine Romane Becks letzter Sommer und Spinner vor zehn Jahren noch als eines der größten literarischen Talente dieses Landes, stiegen die Ambitionen und wuchsen die Reputationen mit Fast genial und besonders seinem vor zwei Jahren veröffentlichten Roman Vom Ende der Einsamkeit, der dem 1984 in München geborenen Romancier nicht nur viele Wochen auf der Bestsellerliste bescherte, sondern auch einen Platz in den Top-Ten der Bücher des Jahres 2016 bei Sounds & Books.

Benedict Wells und die Vergangenheit

Benedict Wells Die Wahrheit über das Lügen Cover  Diogenes VerlagNun könnte man meinen, so ein Geschichtenband wie Die Wahrheit über das Lügen sei lediglich als Überbrückung zum nächsten Roman gedacht. Selbstverständlich ist dies auch der Fall, doch sind die zehn Erzählungen so begnadet geschrieben, dass man sie nicht Lückenbüßer zwischen zwei Romanen ansehen sollte. Alle Fans von Vom Ende der Einsamkeit können sich freuen, denn Benedict Wells greift auf sein letztes Buch zurück und veröffentlicht mit „Die Entstehung der Angst“ ein ursprünglich für seinen Erfolgsroman gedachtes Kapitel, in dem die Hauptfigur Jules die Vergangenheit seines Vaters nachspürt. Mithin eine heftige Geschichte, war die Kindheit von Jules‘ Vater von anhaltender väterlicher Gewalt geprägt. Benedict Wells erklärt in einer Art Vorwort die Gründe, weshalb er dieses Kapitel „schweren Herzens“ aus dem Roman gestrichen hat und es als die „richtige Entscheidung“ empfindet. Für die hartgesottenen Liebhaber des Romans natürlich trotzdem gut, dass er die Erzählung in diesen Band „hineingeschmuggelt“ hat.

Aus dem „Universum von Vom Ende der Einsamkeit“ (und dort nicht veröffentlicht) stammt ebenfalls die Geschichte „Die Nacht der Bücher“, die Jules als Kind verfasste und die vom Eigenleben einer Bibliothek handelt, in der die Bücher heimlich in der Nacht miteinander sprechen und sich einen witzigen und spritzigen Dialog liefern. Im Mittelpunkt des Bandes steht jedoch „Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen“, mit 70 Seiten die längste Erzählung des Buches, in der der nostalgische und erfolglose Drehbuchschreiber und bekennende Star Wars-Fan Adrian Brooks seinen Lebensunterhalt als Filmkritiker verdient und eine Biographie über George Lucas schreiben soll, die diesem jedoch missfällt. Mit der Karriere ist es endgültig aus.

Ein literarischer Pageturner

Während seiner Arbeit als Pizzabote gerät er jedoch in eine Zeitmaschine, die ihn ins Jahr 1973 katapultiert, just als ein gewisser George Lucas am Beginn seins Star Wars-Projektes steckt. Brooks nutzt sein Wissen aus der Zukunft und verändert die Filmgeschichte zu seinem monetären Vorteil. Der Filmfan Benedict Wells tobt sich in seiner Fabulierlust voll aus. Eine abenteuerliche und spektakuläre Geschichte und sei die Idee mit der Zeitreise noch so abgedroschen, Wells haucht ihr hier neues Leben ein. Ganz großes Kino. Die Wahrheit über das Lügen ist ein literarischer Pageturner, der süchtigmachendes Lesen zu Folge hat. Wells bedient die ganze literarische Klaviatur, ohne ansatzweise anbiedernd zu wirken.

Der neue Zauberer der Gegenwartsliteratur

In „Ping Pong“, seine frühste in diesem Buch vorliegende Erzählung aus dem Jahr 2008, spielt er gekonnt mit Franz Kafka- und Stefan Zweig-Motiven. In „Das Grundschulheim“ zitiert er mit John Irving einen seiner literarischen Vorbilder und versetzt uns in schönste Kindheitsnostalgie. Benedict Wells erzählt im zarten Ton von einer Schriftstellerin und ihrer männlichen Muse („Die Muse“) und man ist ähnlich fasziniert wie von Wim Wenders‘ Kultfilm „Der Himmel über Berlin“. Die letzte Geschichte heißt „Hunderttausend“ und freuen Sie sich darauf, Sie dürfen noch das bewegendste Ende eines Buches seit sehr langer Zeit lesen. Benedict Wells ist längst kein Talent mehr, er ist der neue Zauberer der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Benedict Wells: „Die Wahrheit über das Lügen“, Diogenes Verlag, Hardcover, 256 Seiten, 978-3-257-07030-9, 22 € (Beitragsbild: Benedict Wells by Gérard Otremba).

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