Avishai Cohen: Naked Truth – Albumreview

Avishai Cohen by Sam Harfouche

Der israelische Trompeter Avishai Cohen wirft Ballast über Bord und begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit

Avishai Cohen ist ein Suchender. Auf seinem letzten ECM-Album „Big Vicious“ lockte ihn die Neugierde in Rock- und Pop-Gefilde. Neben verzerrten Gitarren gab es auch eine eindrücklich Cover-Version von Massive Attacks „Teardrop“ und die steigende Aufmerksamkeit eines Nichtjazz-Publikums. Doch Cohens Suche geht weiter. Auf „Naked Truth“ widmet er sich wieder dem akustischen Quartett, bestehend aus den Langzeitwegbegleitern Yonathan Avishai (Piano), Barak Mori (Bass) sowie Schlagzeuger Ziv Ravitz.

Avishai beschreibt das Album als Ergebnis einer zwei Jahre langen Meditation. „Das Hauptmotiv von ‘Naked Truth’ ging mir seit dem Beginn der Covid-Pandemie durch den Kopf. Das aus acht Noten bestehende Motiv, das am Anfang von ‘Part II’ zu hören ist, löste den gesamten Prozess aus. Ich würde nicht sagen, dass mich dieses Motiv ‘verfolgt’ hat, aber es hat mich die ganze Zeit hindurch begleitet. Und alles, was ich für dieses Album zusammengestellt habe, dreht sich um diese acht Noten und all die Möglichkeiten, die ihnen innewohnen.”

Avishai Cohen und ein Bansuri-Flötenmeister

Avishai Cohen Naked Truth Cover ECM Records

Acht Noten Ausgangsmaterial; der Rest ist in der Regel improvisiert. Situationsmusik, die so nur entstehen kann, wenn Musiker:innen sich lesen können. Bevor Cohen zu der Aufnahmesession in die Studios La Buissonne ging, gab es nur eine Probe und ein “Minikonzert” mit Yonathan Avishai und Barak Mori. “Dabei ergab sich eine Diskussion darüber, was zu spielen ist und was nicht.” Beispielsweise bat Avishai seine Kameraden darum, sich Aufnahmen des Bansuri-Flötenmeisters Harisprasad Chaurasia anzuhören, “der in meinen Augen so gut die Fähigkeit vermittelt, wie man alles und zugleich nichts außer dem Wesentlichen spielt”. Mit Schlagzeuger Ziv Ravitz sprach Avishai auch darüber, die perkussiven Details auf ein Minimum zu reduzieren. Es ging dabei nicht nur darum, einfach weniger zu spielen. Es war eine Aufforderung, zum gesteigerten emotionalen Ton und Fokus der Musik beizutragen. Ein gutes Beispiel dafür bietet hier “Part IV”.

Ein mutiges Album

Cohen geht es also nicht um aufwendige Kompositionen oder ausdrucksstarke Soli. Auf seinem neuen Album sucht er die Essenz, das Wesen von Musik, die aufs Wesentliche reduziert wird: die nackte Wahrheit eben. Seine Mitmusiker unterstützen ihn dabei sachte und verständnisvoll. Und so haben die Stücke auf „Naked Truth“ etwas Existenzielles. Sie lösen beim Hören Vertrauen aus, weil schnell klar wird, dass hier nicht imponiert werden will, sondern aufrichtig erzählt wird. Das verstärkt die Wirkung der mit Part Eins bis Acht durchnummerierten Titel enorm. „Naked Truth“ ist ein mutiges Album, das die Frage stellt, ob und was gesagt werden will und nicht was gehört werden möchte. Cohen sucht das Wesen seiner Musik und seiner Selbst.

Den Abschluss des Albums bildet “Departure”, ein vertontes Gedicht der israelischen Lyrikerin Zelda Schneurson Mishkovsky (1914–1984), das sich in einer Art buddhistischer Ausgeglichenheit der Sterblichkeit widmet. Es ist der runde Abschluss eines bemerkenswerten Albums.

„Naked Truth“ von Avishai Cohen erscheint am 25.02.2022 bei ECM Records. (Beitragsbild von Sam Harfouche)

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