Arno Geiger: Unter der Drachenwand – Roman

Ein literarischer Paukenschlag zum Jahresbeginn

Arno Geiger ist ein renommierter und mit zahlreichen Preisen dekorierter Schriftsteller. Der 1968 in Bregenz geborene Autor, zuletzt mit Selbstporträt mit Flusspferd in Erscheinung getreten, ist im vergangenen Jahr mit dem Alemannischen Literaturpreis ausgezeichnet worden, davor erhielt er bereits den Johan-Peter-Hebel- sowie den Friedrich-Hölderlin-Preis. Seine wahrscheinlich wichtigste Würdigung war jedoch der Gewinn des Deutschen Buchpreises 2005 für seinen Roman Es geht uns gut. Als erster Sieger des Deutschen Buchpreises verhalf diese Ehrung Arno Geigers Ansehen als Literat enorm. Weitere Preise sollten in der Karriere Geigers sehr bald folgen, denn sein neues Werk Unter der Drachenwand fordert sie geradezu heraus.

Geiger greift einen Faden aus Es geht uns gut auf und stellt u.a. das Kinderlandverschickungslager Schwarzindien in den Mittelpunkt seines neuen Romans, in der Gemeinde Mondsee im Salzkammergut am gleichnamigen See und in der Nähe der Drachenwand, eines imposanten Felsgebirges, gelegen, wo sich im Jahre 1944 auch Veit Kolbe aufhält. Der 24-Jährige erholt sich von seinen im 2. Weltkrieg erlittenen Wunden. Die reichen über die physischen, Oberschenkel, Schlüsselbein und Wange verletzt, hinaus, Kolbe leidet unter Angstzuständen und Depressionen, fünf Jahre als LWK-Fahrer an der Ostfront hinterlassen ihre Spuren. Niedergeschlagenheit und Unsicherheit bestimmen Kolbes Auftreten, der ein Jahr vor Kriegsbeginn sein Abitur machte und studieren wollte, sich nun seiner Jugend beraubt fühlt und gegen die Deprimiertheit Psychopharmaka einnimmt.

Er interessiert sich für die etwa gleichaltrige Lehrerin der nach Schwarzindien verschickten jungen Mädchen, die ihn jedoch kalt abblitzen lässt. Kolbe selbst hat Unterschlupf in einem von seinem im Dorf wohnenden Onkel und Polizisten vermittelten Quartier gefunden, dessen Vermieterin eine boshafte, an einem eingeklemmten Nerv leidende und gehorsame Führergetreue ist, obwohl das Ende nahe und die Alliiertengeschwader bereits über der Drachenwand kreisen. Im Nebenzimmer seiner Unterkunft ist die „Reichsdeutsche“ Margot untergebracht, eine junge verheiratete Frau, die sich um ihre just geborene Tochter kümmert und für Veit Kolbe in den nächsten Monaten zur Liebe seines Lebens wird.

Arno Geiger erzählt die Geschichte des Jahres 1944 aus der Sicht Veit Kolbes, wechselt indes gelegentlich die Perspektive mit Briefen der in Darmstadt lebenden Mutter Margots, die ihrer Tochter über die verheerenden Angriffe auf ihre Heimatstadt und der anschließenden, niederschmetternden Trostlosigkeit berichtet. Ebenfalls in Briefform festgehalten ist die beginnende Liaison des fast 17-jährigen Kurt zu seiner drei Jahre jüngeren Cousine Nanni, die zu den Kinderlandverschickten am Mondsee gehört und dort eines Tages spurlos verschwindet. Geigers vielschichtiger Gesellschaftsroman ist bis zu den Nebenfiguren exquisit durchkomponiert. Als eigentlicher Held entpuppt sich der sogenannte „Brasilianer“, Bruder der Quartierleiterin, der einst Brasilien bereiste, ständig brasilianische Musik hört, von diesem Land und seinen Leuten träumt, seine Meinung betreffs des Reichszustandes jedoch nicht für sich behalten kann und sich von einer Bredouille in die nächste bringt.

Der Brasilianer steht als positive Antipode für die „menschliche Unmenschlichkeit“, die den Protagonisten widerfährt, und der für seine nonkonformen und idealistischen Ansichten durchaus leichtfertigerweise die Konsequenzen tragen muss, von den schlimmsten aber durch Kolbes Einschreiten bewahrt bleibt. Arno Geiger findet für all seine Personen den richtigen Tonfall, für die Atmosphäre des Romans den richtigen Wortklang. Ein Jahr lang schafft es Veit Kolbe mit allen legalen und illegalen Mitteln einer Wiedereinberufung in den Krieg zu entgehen, bevor Ende 1944 auch ihn der Lauf der Zeit trifft. Im heimatlichen Wien kann Kolbe noch zwei Tage Aufschub erwirken, auf dem Rückweg nach Mondsee begegnet er einem jüdischen Zwangsarbeiter, der mit anderen Leidensgenossen einen unnützen Verteidigungswall baut.

Es handelt sich hierbei um Oskar Meyer, dessen Fluchtschicksal von Wien nach Budapest in Briefen an eine Cousine festgehalten wird, mithin die berührendsten und ergreifendsten Passagen dieses Buches, von Geiger feinsinnig und sensibel geschrieben. Für Veit Kolbe bleibt nur die Verabschiedung von seiner Liebsten und der Blick in eine ungewisse Kriegszukunft. Hinter ihm ragt die Drachenwand empor, symbolisch sowohl Schutz bietend als auch Bedrohung evozierend. Der Roman lebt von Kolbes detaillierten Beobachtungen und vielen starken Metaphern. Trotz der zum Krieg gehörenden Tragik bietet das Buch dauerhaften Trost. Unter der Drachenwand von Arno Geiger ist der literarische Paukenschlag, den man sich zum Jahresbeginn wünscht.

Arno Geiger: „Unter der Drachenwand“, Hanser, Hardcover, 480 Seiten, 978-3-446-25812-9, 26 €.

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