Mit „Der Schatten über dem Dorf“ legt der Schweizer Autor Arno Camenisch den zwölften Band seiner Tavanasa-Saga vor. Tavanasa, wer es aus Camenischs Büchern noch nicht kennt, gehört zur Gemeinde Breil/Brigels in der Surselva im Kanton Graubünden und liegt in einer Talsohle des Vorderrheins.
„Die Welt stand still“, so beginnt Camenischs neues – und sehr persönliches – Buch, das einen Besuch des Erzählers in seinem Heimatdorf schildert. Auf seinen Wegen durch das Dorf erinnert er sich an die Orte der Kindheit und an die Menschen, die einst dort lebten: die Eltern und Großeltern, die Tante, die Brüder. Viele von ihnen sind gestorben oder haben das Dorf verlassen; das Schicksal derer, die gegangen sind, bleibt häufig im Dunkel.
Ein tragisches Ereignis
Eines aber verbindet sie miteinander: der Schatten jenes schrecklichen Unglücks, das sich im Jahr 1976 ereignete – eineinhalb Jahre vor der Geburt des Erzählers – und in dessen Folge drei Kinder beim Spielen in einer Baumhütte den Tod fanden. Dieses tragische Ereignis beschattet die Kindheit des Erzählers, legt sich als düstere Ahnung und vage Traurigkeit auf sein Gemüt, es prägt seine frühesten Empfindungen, sein Denken, seine Art, in der Welt zu sein. Mit „Der Schatten über dem Dorf“ holt Camenisch etwas nach, das über all die Jahre in seiner Tavanasa-Chronik ausgespart wurde:
„Als Kind hat man einfach die Welt, die man hat, das ist alles, was ist, aber als Erwachsener war er nach einem halben Tag jeweils wieder weg, und irgendwie kam er zu dem Schluss, dass dieser Gedanke an das Geschehene ihn schwer machte im Herzen, auch ihm ging es gleich, dass er lieber von den schönen Momenten erzählte und von den lustigen, und irgendwie blieb immer etwas ungesagt, all die Jahre über.“
Was da ungesagt blieb, mag nun benannt werden, doch begreifbar wird es niemals sein. Und so mag es tatsächlich scheinen, als stünde die Welt des Dorfes in nicht zu bewältigender Trauer still.
Ein Bild dörflichen Lebens
Reist man in die Vergangenheit, wird die Zeit zu einem Bild. Dieses Bild dörflichen Lebens wird Stück für Stück zusammengesetzt. Immer wieder folgen wir dem Blick des Erzählers, der an der Gegenwart festhält und zugleich an ihr abgleitet. Sich wiederholende Gedanken, sich überlagernde Bilder sind Ausdruck eines kollektiven wie individuellen Traumas, das sich gegen Widerstände den Weg an die Oberfläche des Bewusstseins bahnt.
Am Ende passiert etwas Merkwürdiges, über die Abreise des Erzählers aus Tavansa heißt es:
„Er stand beim Auto und schaute auf die andere Seite vom Rhein hinüber […]. Er schaute über das Tal hinweg und warf einen kurzen Blick zum Himmel, die Sonne schimmerte durch die Wolken, und stieg dann ein, startete den Motor und fuhr los. Von hinten sah man die Rücklichter, wie sie immer kleiner wurden und schliesslich verschwanden.“
Arno Camenisch hinterlässt nachklingende Fragen
Hier kehrt sich der Blick mit einem Mal um: Etwas, was immer es sein mag, sammelt sich im Rücken des Erzählers, bleibt zurück, wird zum Blick, das dem sich entfernenden Auto(r) nachschaut. Es ist nicht mehr das Dorf, es sind nicht mehr seine Bewohner, die Lebenden und die Toten, die betrachtet werden; sie alle werden selbst zum Subjekt der Betrachtung, setzen ihr Leben fort, ungesehen vom Rest der Welt. Die Fragen, die der Roman aufwirft, bleiben unbeantwortet, klingen nach, fast glaubt man ihren Widerhall im Tal zu hören. Doch vielleicht „würde es sich besser anfühlen, es ausgesprochen zu haben, vielleicht hätte es etwas Heilsames, für alle, und würde dazu beitragen, etwas Frieden zu finden.“ Nicht vielleicht, sondern ganz gewiss: Dieses Buch hat etwas Heilsames.
Arno Camenisch: Der Schatten über dem Dorf, Engeler-Verlag 2021, Hardcover, 103 Seiten. ISBN 978-3-906050-80-5, 19 Euro. (Beitragsbild von Janosch Abel)
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