Das Leben des Television-Musikers Tom Verlaine steht Pate für den neuen Roman von Aris Fioretos
von Gérard Otremba
Aris Fioretos stellt seinem neuen Roman ein Zitat aus dem Song „Venus“ der amerikanischen Band Television voran. Ein Verweis, wohin die literarische Reise des schwedischen Schriftstellers diesmal geht. Den Song hat Tom Verlaine geschrieben, Sänger und Gitarrist der New Yorker Rockband Television, die 1977 das wegweisende Kritikerlieblingsalbum „Marquee Moon“ veröffentlicht hat. Dem Lebensweg des für eine kurze Zeit schillernden Musikers Verlaine, der eigentlich Thomas Miller hieß und im Buch den Namen Tim Middler, Künstlername Ache, erhält, widmet sich Aris Fioretos in seinem opulenten Werk „Die dünnen Götter“.
Briefe an die unbekannte Tochter
Der in die Jahre gekommene und kranke Rockmusiker erhält einen Brief einer im Sterben liegenden Frau, der ihm von seiner Vaterschaft kündet, mit der Bitte, er möge der elfjährigen Tochter sein Leben erzählen. Ache macht sich auch sofort ans Werk und schreibt dem Mädchen zwanzig lange, im Roman als einzelne Kapitel aufgeteilte Briefe, die er zunächst auf seinem PC abspeichert. Er erzählt seine Lebensgeschichte, die Aris Fioretos sowohl eng als auch frei und einfallsreich an der Biographie Tom Verlaines anlehnt. Für die noch recht junge Tochter sind Tim Middlers sehr offene Ausführungen manchmal wohl etwas zu freizügig, der Ritt durch über ein halbes Jahrhundert der Rock-Pop-Historie verlangt indes den intimen Rückblick.
New York in den Seventies
Den intimen und reflektierten Rückblick auf ein 1949 in der amerikanischen Provinz begonnenes Leben, das Middler als Außenseiter mit einem rivalisierenden Zwillingsbruder zeigt, der von der Schule fliegt, im Gefängnis landet, Rimbaud zitiert und in der Garage des Vaters erste Akkorde an der Gitarre lernt. Glückliche Umstände verhindern seine Teilnahme am Vietnamkrieg, die Liebe zum Jazz stellt er zugunsten der Rockmusik hinten an und zieht mit knapp 20 Jahren nach New York. Im Big Apple dann erste Versuche als Dichter und die Gründung der Band „Transmission“.
Aris Fioretos‘ Schilderung der Sechziger- und Siebziger-Jahre gehört zu den aufregendsten in der Musik-Roman-Historie. Man taucht als Leser in der Folge gezielt in den Rock’n’Roll-Underground-Geist New Yorks (Blondie, CBGB) ein, der im realen Leben u.a. von Patti Smith verkörpert worden ist. Im Roman heißt Patti Smith Trish, von Aris Fioretos als „eine schöne Vogelscheuche“ beschrieben, Dichterin, Musikerin und Musikkritikerin, die in einem Artikel die Transmission-Mitglieder als „dünne Götter“ bezeichnet.
Aris Fioretos setzt Tom Verlaine ein Denkmal
Wie im richtigen Leben Smith und Verlaine, werden Trish und Ache im Roman ein Paar. Television, bzw. Transmission, stiegen mit dem oben erwähnten Debüt kometenhaft in den Rockhimmel auf, verglühten indes nicht minder schnell. Schon sehr bald nach der Veröffentlichung des Zweitwerks „Adventure“ (1978) war Schluss (Jahre später folgten ein Album- sowie ein Live-Comeback). Und ähnlich wie Tom Verlaine im Niemandsland verschwand, verliert sich auch im Roman seine Spur. Die Solo-Karriere in London, später der Umzug nach Berlin. Neue, aber nicht haltende Beziehung, die Verarmung, die Krankheit. Und nur wenige Monate nach der Original-Romanveröffentlichung verstarb Tom Verlaine im Januar 2023. Aris Fioretos setzt Verlaine mit „Die dünnen Götter“ ein literarisches Denkmal, obwohl die Spannung im letzten Drittel etwas nachlässt. Doch die Leidenschaft am Sujet, die sprachliche Qualität und die überbordende Lust am Erzählen machen diesen Roman zu einem ganz besonderen.
Aris Fioretos: „Die dünnen Götter“, Hanser, aus dem Schwedischen von Paul Berf, Hardcover, 528 Seiten, 978-3-446-27953-7, 34 Euro. (Beitragsbild: Aris Fioretos, credit: Sara MacKey, Stockholm 2019)