Antje Rávik Strubel: Blaue Frau

In ihrem mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichneten Roman „Blaue Frau“ erzählt Antje Rávik Strubel vom Trauma einer sexuell missbrauchten jungen Frau

Der Anfang des Romans ist eine Art Bestandsaufnahme: Geräusche werden registriert, Bilder, Gegenstände; all dies offenbar der Versuch, die Gegenwart wieder zuzulassen, als sei dem eine Zeit der Bewusstlosigkeit vorausgegangen. Erst nach und nach wird klar, wer das Subjekt hinter diesen Wahrnehmungen und die zentrale Protagonistin des Romans ist: Adina, eine junge Frau, die eine weite Reise hinter sich hat. Immer wieder drängen sich ihr Bilder der Erinnerung auf: Tiefverschneite Wälder, eine Kindheit in dem kleinen Dorf Harrachov im tschechischen Riesengebirge, inmitten einer von Touristen als Skigebiet geschätzten Region, in der ihre Mutter noch immer lebt. Dort wächst Adina als einzige Jugendliche des Dorfes auf. Einziges Fenster zur Welt: ein Chatroom, in dem sie sich unter dem Profilnamen „der letzte Mohikaner“ mit anderen jungen Menschen austauschen kann. Dort – in der Anonymität – fühlt sie sich frei, akzeptiert und verstanden.

Antje Rávik Strubel glänzt im zweiten Teil des Romans

Antje Rávik Strubel Blaue Frau Cover S. Fischer Verlag

Schließlich entkommt Adina der Enge ihrer Herkunft, sie reist nach Berlin und absolviert dort einen Sprachkurs. In einem Café lernt sie die eigenwillige Rickie kennen, sie ist Fotokünstlerin, betreibt ihr eigenes Atelier und bildet den Nukleus einer lesbischen Bohème, die Adina zugleich anzieht und verstört. Und obwohl es Rickie gelingt, auf einem ihrer Bilder den „letzten Mohikaner“ sichtbar werden zu lassen (jedenfalls für Adina selbst), bleiben sich die beiden Frauen letztlich fremd. Rickie verschafft ihr ein Praktikum in einem neu errichteten Kulturzentrum in der Uckermark. Dort ist nichts, wie sie es erwartet hatte: Sie trifft auf Razvan Stein, einen selbstgefälligen und hoffärtigen Möchtegern-Gutsherrn, der selbst aus der Uckermark stammt und vorgibt, kulturelle Brücken zwischen Ost und West bauen zu wollen, letztlich aber nur Geschäfte machen will.

Auf Adina blickt er ebenso herab wie auf die anderen Mädchen aus Osteuropa, die er anstellt, damit sie in seinen Ferienhäusern putzen. In diesem zweiten Teil des Romans gelingt Antje Rávik Strubel, was andere Teile des Romans vermissen lassen: Die präzise Beschreibung eines Ortes und seiner Atmosphäre.

Machtverhältnisse und Verstrickungen

Was hier vor allem auch deutlich wird, sind die Machtverhältnisse zwischen Ost und West, denn Razvan Stein ist seinerseits in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem westdeutschen Kulturpolitiker Johann Manfred Bengel verstrickt – der im Namen bereits die Verharmlosung des Verbrechens trägt, an dem er sich schuldig macht: Er vergewaltigt Adina; sie wird zum Teil eines Deals, den Stein mit Bengel ausmacht, um an die Gelder eines europäischen Kulturfonds zu kommen.

Die Erfahrung körperlicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs ist es, die Adina vorkommt wie die Fahrt in einem „Fahrstuhl, den sie mit einundzwanzig betrat und erst mit zweiundzwanzig und in einer anderen Region der Welt wieder verlassen hat“. Und in der „Zwischenzeit war es dunkel. Als wäre der Fahrstuhl zwischen den Etagen hängengeblieben. Die Kabine stockt, ruckt wieder an, sackt ab und bleibt hängen, während das Licht ausgeht. […] Sie war weg, obwohl sie noch da war.“

Flucht nach Helsinki

Adina flieht aus der Uckermark, aus Deutschland und strandet schließlich in einer Plattenbausiedlung am Stadtrand von Helsinki. Doch zuvor lernt sie Leonides kennen, einen aufstrebenden estnischen Politiker, Diplomaten und Humanisten, der sich für eine gesamteuropäische Erinnerungskultur einsetzt und dabei insbesondere mit dem Stalinismus aufräumen will. Trotz der Liebe, die sie füreinander empfinden, bleibt Leonides blind für Adinas Leiden, das sie ihrerseits vor ihm wie vor sich selbst verborgen hält. Auf einem Empfang, den Adina und Leonidas gemeinsam besuchen, trifft sie erneut auf Bengel und flieht ein weiteres Mal. Letztlich ist die einzige Figur des Romans, die schließlich an Adinas Seite kämpft und mit der sich etwas wie Vertrauen und Verständnis einstellen, die Sozialaktivistin Kristiina. Gemeinsam versuchen sie, einen Weg zu finden, Bengel zur Rechenschaft zu ziehen.

Antje Rávik Strubel und der zweite Handlungsstrang

Es gibt noch einen zweiten Handlungsstrang: Hier begegnen wir einer Ich-Erzählerin, von der wir erfahren, dass sie Schriftstellerin und für eine gewisse Zeit für Recherchen in Helsinki ist. Sie berichtet von ihren Begegnungen mit einer mystischen blauen Frau, die sie meist am Hafen trifft, zu dem man nur durch eine Unterführung gelangt, die gleichsam die Grenze sowohl zwischen zwei verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit als auch zwischen zwei fiktionalen Bereichen markiert. Jene blaue Frau fungiert im Roman als Sinnbild des kreativen (Schreib-)Prozesses, der nicht ohne immanente Spannung zwischen erlebter Wirklichkeit und Fiktion zu haben ist.

Als Verkörperung der Dichtung weist sie zugleich über die Romanfiktion hinaus und ermöglicht den literarischen Prozess der Annäherung der Schriftstellerin an das Schicksal der Protagonistin. Gleichwohl wirken die Dialoge zwischen der Schriftstellerin und jener blauen Frau allzu bedeutungsschwanger und mehr zur Verrätselung gemacht als zur poetologischen Reflexion (die man allerdings einem literarischen Text auch kaum abverlangen kann).

Ein schmerzhafter Prozess

Letztlich beschreibt der Roman den langen und schmerzhaften Prozess einer jungen Frau, die sich ihrem Trauma zu stellen gezwungen ist, nachdem sie ihrem Peiniger unverhofft wiederbegegnet. Der Roman findet, und das wurde auch von der Jury gelobt, die „Blaue Frau“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet hat, eine Sprache für etwas, das alle Sprache verdrängt. Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt, basiert auf einem ungleichen Machtverhältnis; „Blaue Frau“ thematisiert gleich verschiedene Machtverhältnisse: das Verhältnis von Ost und West in bundesdeutscher wie in europäischer Perspektive, das Verhältnis von Mann und Frau, das Verhältnis von solchen Menschen, die eine Stimme haben und sie erheben, und solchen, die keine Stimme haben. Strukturell-politische und individuelle Machtverhältnisse in ihren ganz unterschiedlichen Ausdrucksformen aufgezeigt zu haben, das ist sicherlich ein Verdienst des Romans.

Antje Rávik Strubel vernachlässigt die Ausgestaltung der Figuren

Allerdings tritt hinter dieses Schreibvorhaben, in dem die Machtverhältnisse doch allzu oft von vornherein feststehen, die erzählerische Ausgestaltung der Figuren (in der ihnen immanenten Widersprüchlichkeit) zurück; die vielen druckreifen Mono- und Dialoge fallen auf, Figuren (mit Ausnahme Adinas) erscheinen mehr als Repräsentanten von Ideologien und Diskurspositionen als dass sie ein Milieu erkennbar oder die Genese dieser Ideologien verstehbar werden ließen. Natürlich ließe sich einwenden, dass es in der gesellschaftlichen Realität genauso zugeht: Machtverhältnisse scheinen unverrückbar und müssen aufgedeckt werden. Literatur jedoch hat die Möglichkeit (und vielleicht daher auch die Aufgabe), Verhältnisse und Charaktere durchlässig zu machen, immanente Widersprüche aufzuzeigen, kurz: die Verhältnisse aus sich selbst heraus zu entwickeln.

Zu den Stärken des Romans zählt das Ende, das eine Auflösung nahelegt und doch offen bleibt. In jedem Fall wird der Leser/die Leserin Zeuge einer Befreiung, einer Bündelung von Kräften, die im Innern wohnen.

Antje Rávik Strubel: „Blaue Frau“, S. Fischer, Hardcover, 432 Seiten, 978-3-10-397101-9, 24 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

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