Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus

Annie Ernaux Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus Buchcover Suhrkamp Verlag

Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux schreibt in diesen Tagebuchnotizen eindringlich über die Demenzerkrankung ihrer Mutter.

von Sebastian Meißner

In all ihren Büchern erzählt Annie Ernaux von sich und ihrem Leben.  Als „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich selbst einmal nannte, schreibt sie schonungs- und distanzlos über ihre Rolle als Frau, Tochter, Schwester. In einigen ihrer Bücher (vor allem „Die Frau“) haben wir auch ihre Mutter bereits kennengelernt – als laute, kraftvolle Person, die eine Kneipe betreibt und der ihre intellektuelle Tochter fremd geworden war. Im nun veröffentlichten „Ich komme aus der Dunkelheit nicht raus“ thematisiert Ernaux die Demenzerkrankung und die letzten Lebensmonate ihrer Mutter.

Ohne intellektuelle Deutung

Annie Ernaux Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus Buchcover Suhrkamp Verlag

Dabei war dieses Buch eigentlich nie zur Veröffentlichung gedacht. Es sind vielmehr Tagebucheinträge, die Ernaux seit Bekanntwerden der damals noch nicht als Demenz bekannten Erkrankung bis zum Tod ihrer Mutter angefertigt hat. Von Dezember 1983 bis zum Tod der Mutter 1986 hielt sie den Verfall und das allmähliche Verblassen fest, beschreibt das Leben im Krankenhaus und vor allem ihre Gefühle während dieses Prozesses, die von Scham, Schuld, Unverständnis, Trauer, Trostlosigkeit und letztlich vor allem von bedingungsloser Liebe geprägt sind.

Rund 30 Jahre später entschloss sie sich, diese Notizen doch zu veröffentlichen, die nun erstmals auch auf Deutsch vorliegen. Vielleicht ist es gerade die Abwesenheit von Gedanken an ein mögliches künftiges Lesepublikum, die diese Notizen so eindringlich machen. Wir erleben Annie Ernaux hier als höchst empfindsame und aufgewühlte Frau, die ihre Wurzeln verliert, ohne das Beschriebene intellektuell zu deuten. Manchmal wird sie auf diesen Seiten so intim, dass man sich als Leser unbeobachtet zurückziehen und die beiden unter sich lassen möchte. 

Annie Ernaux und der Schmerz

Man dürfe diese Seiten auf keinen Fall als objektiven Bericht über die stationäre Langzeitpflege lesen und erst recht nicht als Anklage, schreibt Ernaux im Vorwort von 1996. Sie seien einfach nur „Überreste eines Schmerzes“. Und das ist „Ich komme aus der Dunkelheit nicht raus“: eine schmerzhafte Erfahrung, die aber gleichzeitig von überwältigender Zärtlichkeit und Sehnsucht durchzogen ist. Am Ende dieser Notizen steht die Unbegreiflichkeit. Auf den Tod, und vielleicht besonders auf den der eigenen Mutter, kann man sich nicht vorbereiten. Man kann man sich für ihn nicht rüsten, selbst dann nicht, wenn ihm eine monatelange schwere Krankheit vorausgeht. Die üblichen Floskeln und Rituale, die in solchen Fällen zum Tragen kommen und die Annie Ernaux hier beiläufig beschreibt, wirken geradezu grotesk hilflos und unangebracht. Der Tod ist kein Ende und kein Anfang.      

Annie Ernaux: „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“, Suhrkamp Verlag, aus dem Französischen von Sonja Finck, Hardcover, 106 Seiten, 978-3-518-22564-6, 22 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

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