Mit ihrem schonungslosen Bericht über eine Affäre mit einem verheirateten Mann wirft Annie Ernaux Fragen auf den über Stellenwert der Liebe, von körperlicher Begierde, von Selbstachtung und -ausbeutung
von Sebastian Meißner
Wie keine andere berichtet Annie Ernaux in ihren Büchern unverstellt über sich und ihr Leben. Ihre Schonungslosigkeit ermöglicht eine emotional bewegende und gleichzeitig analytisch-wissenschaftliche Deutung über den Einzelfall ihrer Biografie hinaus. Für ihren autobiografischen Stil, ihren Mut und ihren Scharfblick erhielt die inzwischen 82-jährige vor zwei den Literaturnobelpreis. In der Vergangenheit hat die „Ethnologin ihrer Selbst“ sämtliche Stationen ihres Lebens zu Literatur gemacht – ihre Eltern, die verstorbene Schwester, ihre soziale Herkunft, ihre Abtreibung.
Originaltext erschien bereits 1991
Im hier vorliegenden Text, der in Frankreich bereits 1991 erschien, erzählt Annie Ernaux von einer Affäre, die sie – damals Mitte 40, berufstätig, geschieden, Mutter zweier Söhne – mit einem Osteuropäer pflegte. Die Treffen mit diesem Mann sind selten, beschränken sich zumeist auf Körperlichkeit und haben zu keinem Zeitpunkt Aussicht auf Entwicklung. Ernaux gibt dem Leben zwischen diesen Terminen dennoch kaum mehr Bedeutung. Es sei denn, es enthält Hinweise für oder über ihn. Sie lebt ausschließlich in Erwartung der nächsten Begegnung mit diesem Mann. Eindrücklich beschreibt sie, wie sie leidet, sich quält, sich auflöst. Und wie sie als Gegenleistung nichts als vorübergehende Begierde erhält.
Annie Ernaux entlarvt sich und andere
Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung tat man diesen Text als erotische Frauenliteratur ab. Was ihm nicht ansatzweise gerecht wird. „Eine Leidenschaft“ erzählt vielmehr vom Stellenwert der Liebe, von körperlicher Begierde, von Selbstachtung und -ausbeutung, von Stolz und von einer Gesellschaft, in der Normen und Konventionen über dem persönlichen Glück stehen. An vielen Stellen dieses Textes fühlt man sich als Leser:in ertappt und entlarvt. Bemitleidet und beneidet die Autorin. Und lernt soviel dabei.
Gerade einmal 80 Seiten hat dieses Büchlein. Das genügt, um Fragen nach dem eigenen Leben Aufzuwerfen. Was kann Literatur mehr bewirken als das?
Annie Ernaux: „Eine Leidenschaft, Suhrkamp Verlag, übersetzt von Sonja Finck, Hardcover, 80 Seiten, 978-3-518-22553-0, 20 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)