Ann Petry: The Street – Die Straße – Roman

Ann Petry by Carl Van Vechten / Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library

Entdeckung einer Legende heißt es auf dem Cover von Ann Petrys in Neuübersetzung erschienenem Roman „The Street – Die Straße“. Und das ist keinesfalls zu hoch gestapelt.

Wer auch immer sich dafür verantwortlich zeichnet, dass Ann Petrys „The Street – Die Straße“ in das Nagel & Kimche Programm aufgenommen wurde, hat mindestens einen Stern in der sicherlich existenten, verlagseigenen Ruhmeshalle verdient. Natürlich sollte der Stern keinesfalls größer oder goldener sein sollte, als der der Autorin selbst. Oder die der Autorin selbst, denn auch goldener Plural wäre der Ehrung für Ann Petry keinesfalls zu viel.
Ganz offensichtlich fällt es noch schwerer als befürchtet, mit der Begeisterung über ihren, bereits 1946 erschienenen Debütroman „The Street – Die Straße“ bis zum Ende der Rezension hinter’m Berg zu halten. Oder zumindest solange, bis die Rezension überhaupt begonnen hat. Denn wirklich los geht sie erst hier:

The Street: Zu wahr, um schön zu sein

„Berufstätige Alleinerziehende sucht für sich und ihren 8jährigen Sohn in friedlicher Umgebung ein schönes Zuhause, das den Begriff verdient und es ihnen ermöglicht, ein besseres Leben zu führen, als es für Schwarze vorgesehen zu sein scheint.“ Das ungefähr ist es, wovon Lutie Johnson für sich und Sohn Bubb träumt, nachdem ihr einstiges Leben unter „es war einmal“ läuft. Ihr einstiges Leben, das war eines mit ihrer Jugendliebe Jim, den sie sehr früh geheiratet hatte. Mit dem gemeinsamen Sohn Bubb lebten sie in einem kleinen Häuschen in einem besseren Viertel. Weil Jim keine Arbeit fand, ging Lutie, um die junge Familie ernähren zu können, als Hausmädchen aufs Land. Was sie in dieser Zeit lernte, waren im Wesentlichen drei Dinge:

(1) Dass jeder reich werden kann, wenn er nur genug arbeitet.
(2) Dass jede junge schwarze Frau für reiche Weiße ein Flittchen ist.
(3) Dass Jim sie betrügt, während sie auswärts ackert.

Als sie (3) mitbekommt, zieht Lutie mit Bubb zu ihrem Vater. Den schlechten Einfluss seiner beiden Vorlieben (selbstgebrannter Schnaps, häufig wechselnde Damenbekanntschaften) auf Bubb fürchtend, veranlassen sie, trotz Geldknappheit so schnell es geht eine eigene Bleibe für sich und Bubb zu finden.
Alles andere, so hofft Lutie, würde sich dann ergeben, wenn sie erst einmal genug gearbeitet hätte und reich genug für das Leben wäre, das sie sich erträumt: Also das gute Leben. Das, in dem ihre Hautfarbe keine Rolle spielt. Das Leben, in dem sie nicht als Flittchen angesehen wird. Das, in dem sie Bubb nicht mehr so oft allein lassen muss, um Geld zu verdienen und sich auch keine Sorgen um die Gegend machen muss, in der er aufwächst. Das, in dem sie sich eine Wohnung in einer guten Gegend leisten kann und nicht nur ein „Drecksloch“ mit Klingelschild in einer typischen Mietskaserne der 116ten Straße in Harlem, wo sie und Bubb in drei „beklemmend winzigen Zimmern“ hausen, so klein, dass die ganze Wohnung „bequem in ein einziges, halbwegs geräumiges Zimmer passen“ würde.

Mehr Tunnel als Licht in der 116ten Straße

Ann Petry The Street Cover Nagel & Kimche

Die prekäre Wohnsituation ist keineswegs Luties einziges Problem. Und auch der schmierige, übergriffige Hausmeister Jones, der ihr in einer Tour nachstellt und auflauert, ist es nicht allein. Es ist nicht nur Mrs. Hedges aus dem Erdgeschoss, die Lutie zur Prostitution überreden will oder der Barbesitzer Junto, der andere Pläne mit Lutie hat, denn sie als bezahlte Sängerin auftreten zu lassen. Es sind nicht bloß die Weißen, deren Schuhe der achtjährige Bubb putzen würde, um etwas Geld für sich und seine Mom dazuzuverdienen.  Es ist nicht nur ihr unterbezahlter Job, sind nicht bloß mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten dort, es ist nicht die eine Ablehnung, nicht die eine verwehrte Chance: Es ist das alles. Das ganze System, bestehend aus Armut, Gewalt, Sexismus und allgegenwärtiger rassistischer Verachtung. Es ist der aussichtslose Kampf um die eigene Würde und darum, ihren Sohn inmitten all diesen Elends zu einem anständigen Menschen heranzuziehen. Es ist die fehlende Perspektive, die Hoffnungslosigkeit, es sind der Schmerz und die Wut über all das. Es ist die Vergangenheit, ist die Gegenwart, ist die Zukunft: All das ist es, weswegen es schließlich kommt, wie es kommen musste aber nie hätte kommen sollen.

Ann Petry richtet in „The Street – Die Straße“ den Blick auf einen gesellschaftlichen Mikrokosmos, wie es ihn nicht nur damals in den 40er Jahren gab und auch nicht nur in der 116ten Straße in Harlem. So komplex die Thematik, so verdichtet schreibt Petry darüber: Weicht bei aller literarischen Verknappung nicht aus, bleibt nicht an der Oberfläche. Es gibt kein Gefühl von Nebenfiguren, von solchen, die im Geschehen lediglich eine untergeordnete Rolle spielten oder deren Wesen zu entwickeln vergessen worden zu sein scheint. Stattdessen ist allen Charakteren des Romans eine Vielschichtigkeit gemein, wie sie Menschen in der Regel eigen ist und eine Kategorisierung in „ausschließlich gut“ oder „ausschließlich böse“ unmöglich macht.

Detailliert wie eine Pop-Up-Karte, die man nicht geschenkt will

„The Street – Die Straße“ ist ein bisschen wie eine Miniatur-Pop-Up-Karte. Je weiter man aufklappt, je genauer man hinsieht, desto mehr erkennt man, wie detailliert gearbeitet wurde. Nur, dass Pop-Up-Karten, anders als Ann Petrys Roman, wohl schöner Anlässe wegen entstehen. Als erster Roman einer afroamerikanischen Frau, der sich über 1,5 Millionen Mal verkaufte, war „The Street“ nicht nur eine literarische Sensation, sondern vor allem eine politische: Galt afroamerikanische Literatur seinerzeit doch als Domäne afroamerikanischer Männer und Literatur von Frauen als die weißer Frauen. Die Frage, was es bedeutet, Afroamerikaner*in respektive weiß zu sein sowie Rassismus in all seinen Facetten, hielt in allen Texten der 1997 verstorbenen Autorin Einzug. Und auch heute, über 75 Jahre nach Veröffentlichung von Ann Petrys Debütroman, der jetzt in einer Neuübersetzung von Uta Strätling erschienen ist, hat dieser nicht an Aktualität oder Brisanz verloren. Leider.

Ann Petry: „The Street – Die Straße“, Nagel & Kimche, aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling, mit einem Nachwort von Tayari Jones, Hardcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten, ISBN: 978-3-312-01160-5, 24 € (Beitragsbild: Carl Van Vechten / Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library)

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