Der Anke Stelling-Rundumschlag durch die deutsche Mittelstandsgesellschaft
Anke Stelling hat nach „Bodentiefe Fenster“, mit dem sie auf der Longlist des Deutschen Buchpreises sowie auf der Hotlist der unabhängigen Verlage 2015 stand und der im gleichen Jahr mit dem Melusine-Huss-Preis ausgezeichnet worden ist, erneut einen Prenzlauer Berg-Roman geschrieben. „Schäfchen im Trockenen“ heißt das neue Werk der 1971 in Ulm geborenen und in Berlin lebenden Schriftstellerin, für den sie den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse gewann. In „Schäfchen im Trockenen“ schreibt Anke Stelling eine 260 seitenlange Wutrede aus der Perspektive von Resi, einer Autorin im Alter von Mitte vierzig, die mit ihrem Künstlergatten und den vier Kindern unentwegt am Rande des Existenzminimums lebt.
Resi, die Bildungsaufsteigerin
Noch im hippen Prenzlauer Berg-Viertel, doch die Verbannung nach Marzahn droht wie ein Damoklesschwert über der Familie. Nun dringender als zuvor, hält Resi doch die Kündigung ihres Wohnungsmietvertrages in der Hand. Eine Retourkutsche ihres alten Kumpels Frank, denn der Freundeskreis hat sich von Resi abgewandt, fühlt sich durch einen ihrer Artikel sowie ein Buch verraten. Resi wendet sich in ihrem Rundumschlag an ihre mit 14 Jahren älteste Tochter Bea. Sie rollt die eigene, von Schweigen geprägte Familiengeschichte auf und möchte es ihrer Tochter gegenüber anders halten, als es ihre Mutter ihr gegenüber tat, und Bea alles erzählen. Resi ist ein Bildungsaufsteigerkind, sie war die einzige in ihrer Gymnasiasten-Clique, die keine privilegierte Herkunft vorweisen konnte. Als erfolglose Autorin war sie finanziell nie auf Rosen gebettet und als die Freunde ihr Wohnprojekt „K23“, diese „bunte Wahl- und Genverwandtschaft“, aufzogen, fehlte es am nötigen Eigenkapital, um mit einsteigen zu können. Freundeshilfe lehnte Resi dankend ab. Das aufgesetzte, mitunter herablassende Verhalten ihrer sich in der gehobenen Mittelschicht gemütlich machenden Freunde wirkte auf Resi zunehmend suspekt.
Anke Stelling zeigt der neoliberalen Mittelschicht den Stinkefinger
Anke Stelling verhandelt in ihrem Generalangriff eine Vielfalt an zusammenhängenden Themen wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Neid, Herkunft, soziale Unterschiede, Bildung, Geld, Privilegien, Standesdenken und die allgemeine, verheerende Wohnungsmarktsituation. Anke Stelling zeigt der politisch überkorrekten, neoliberalen Mittelschicht, die ihre Schäfchen ins Trockene gebracht hat, bei der mehr Schein als Sein glänzt und die die äußerliche Perfektion anstrebt, den erhobenen Mittelfinger. Diese Art Literatur kann in ihrem Furor schnell überstrapazieren, bei Stelling ist dies nicht der Fall, zumal sich Resi trotz der auf ihre Wahrheit beharrenden Position als zuweilen selbstironische Erzählstimme entpuppt. Und Wahrheiten müssen manchmal schmerzhaft sein. Ein wilder, überbordender, scharfer und zugespitzter literarischer Husarenritt durch die deutsche Mittelstandsgesellschaft.
Anke Stelling: „Schäfchen im Trockenen“, Verbrecher Verlag, Hardcover, 272 Seiten, 978-3-95732-338-5, 22 € (Beitragsbild: Buchcover).