Andreas Reckwitz: Verlust

Andreas Reckwitz Verlust Cover Suhrkamp Verlag

Klug, anregend, überraschend: Andreas Reckwitz zeigt mit diesem gründlich aufgebauten Buch, warum der Verlust zu unserer Lebenswelt gehört und dass der Fortschritt ausgedient hat

von Sebastian Meißner

84 Prozent der Deutschen blickten 2022 laut einer Studie der Uni Bonn pessimistisch in die Zukunft. Das ist wenig verwunderlich. Immerhin erreichen uns nahezu täglich Nachrichten, die das Ende des heutigen „guten Lebens“ ankündigen. Der Klimawandel lässt die Gletscher schmelzen. Der Wirtschaftseinbruch und die wackelige Weltordnung bedrohen den Wohlstand. Fake News und neue Narrative ändern die gewohnte Ordnung. Andreas Reckwitz hat mit „Verlust“ das passende Buch zu diesem Phänomen geschrieben. Ein bemerkenswertes und tiefgründiges Werk, das eine treffende und gleichzeitig unaufgeregte Analyse der Moderne als Verlustgeschichte bietet. Der Soziologe entwirft in diesem Buch ein präzises Bild unserer Gegenwart, die zunehmend von Krisen und Verlusten geprägt ist – seien es ökologische, gesellschaftliche oder individuelle Verluste. Reckwitz zielt dabei auf das fundamentale Paradox der Moderne: Je mehr Fortschritt versprochen wird, desto mehr Verluste werden zugleich mitproduziert. Die Vorstellung, die moderne Gesellschaft sei eine einzige Erfolgsstory, gerät hier ins Wanken.

Die lange Geschichte des Verlustes

Andreas Reckwitz Verlust Cover Suhrkamp Verlag

Seine Analyse beginnt nicht mit einfachen Klagen oder den üblichen kulturkritischen Stereotypen, sondern nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Geschichte des Verlustes. Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart zeigt Andreas Reckwitz, wie sich die Wahrnehmung von Verlusten gewandelt hat – und wie sie in der modernen Welt zunehmend unsichtbar gemacht wurden. Doch in einer Zeit, in der der Glaube an den Fortschritt ins Wanken gerät, kommen diese Verluste wieder ins Blickfeld. Verlusteskalationen treten zutage, die nicht nur in persönlichen Enttäuschungen münden, sondern auch das gesellschaftliche Klima vergiften und anfällig für populistische Instrumentalisierungen machen.

Andreas Reckwitz will ermutigen

Besonders überzeugend ist, dass Reckwitz den Verlust nicht nur als individuelle Erfahrung behandelt, sondern ihn als ein kollektives, soziales Phänomen, das tief in die Strukturen der Moderne eingewoben ist, analysiert. Er nimmt sich Zeit, die Verhältnisse zu entschlüsseln und diese „Verlusterfahrungen“ als Spiegelbild der fortwährenden Entfaltung und gleichzeitigen Zerstörung der modernen Welt darzustellen. Dabei bleibt er stets analytisch, ohne in einfache Polemiken abzudriften. Das macht „Verlust“ zu einer intellektuell anspruchsvollen Lektüre, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie der moderne Mensch seine Verluste begreifen und in den Griff bekommen kann.

Fundierte Analysen

Reckwitz‘ Buch ist jedoch nicht nur eine düstere Bestandsaufnahme. Vielmehr ermutigt er die Leser, sich mit der gegenwärtigen Situation auseinanderzusetzen und kreative Wege zu finden, den Verlust als Bestandteil unserer modernen Existenz zu akzeptieren und daraus neue Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln. Die Analyse ist weder pessimistisch noch idealistisch, sondern realistisch und differenziert. Wer die soziologische Perspektive auf die Gegenwart schätzt und sich tiefer mit den komplexen Verhältnissen von Fortschritt, Verlust und der Zukunft der Moderne beschäftigen möchte, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Es bietet nicht nur eine fundierte Gesellschaftsanalyse, sondern fordert auch dazu auf, über die eigenen Erwartungen an die Zukunft nachzudenken und sich der Frage zu stellen, wie wir als Gesellschaft mit den Herausforderungen des Verlustes umgehen wollen.

Andreas Reckwitz: „Verlust“, Suhrkamp, Hardcover, 463 Seiten, 978-3-518-58822-2, 32 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

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