Alice Munro: Liebes Leben

Neue, annmutige und ergreifende Erzählungen der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro

von Gérard Otremba

Wie gut, dass Literaturpreise vergeben werden. Jahrelang arbeitet man im Buchhandel, führt die Bücher von Alice Munro im Sortiment, hält sie immer wieder in der Hand, speichert die Autorin als noch zu entdeckende Schriftstellerin ab, doch als ein fast ausschließlich Romane lesender Mensch bleiben die Erzählbände von Alice Munro doch wieder liegen. Und dann bekommt die 82-jährige kanadische Autorin den Literaturnobelpreis 2013. Spätestens also jetzt ist der Zeitpunkt da, endlich ein Buch von Alice Munro zu lesen. Und nach der Lektüre ihres neuen Bandes Liebes Leben stellt man sich die Frage, wieso man nicht schon viel früher eines ihrer Werke las. Die in Wingham, Ontario, geborene Erzählerin beeindruck in Liebes Leben durch einen gleichsam brutal realistischen wie liebevoll poetischen Schreibstil. Liebes Leben versammelt vierzehn Erzählungen, die letzten vier stark autobiographisch gefärbt und nach Angaben von Alice Munro sind sie „…die ersten und letzten – und die persönlichsten – Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe“. Zum Beispiel über ihr Kindermädchen Sadie, deren Unfalltod den Leser unvermittelt trifft, von Alice Munro aber fast lakonisch rekapituliert wird.

Der Spagat zwischen Nähe und Distanz von Autorin zum Leser, vom Leser zu den Hauptfiguren, gelingt Alice Munro auf wundersame Weise. In ihren Erzählungen zeigt sich Munro als Chronistin des letzten Jahrhunderts. Die meisten von ihnen spielen in den 1940er- bis 60er Jahren, für viele Leser eine fremde, weil nicht erlebte Zeit. Eine Zeit, gar nicht so lange her, in der es „die wichtigste Aufgabe einer Frau“ war, „ihrem Mann eine Heimstatt zu bereiten“, wie es in der Erzählung „Heimstatt“ so unschön heißt. Dankenswerterweise hat sich gesellschaftlich viel verändert, obgleich in einigen dunklen Landstrichen unserer Republik die „Heimstatt“ wahrscheinlich mit „Herdprämie“ übersetzt wird. Alice Munro berichtet von einer Zeit, in der Züchtigungen von vorlauten, oberschlauen oder sogenannten aufmüpfigen Kindern auf der Tagesordnung standen und die Emanzipation der Frau häufig noch ein mehr als fremder Begriff war, sich im Wandel der Zeit jedoch veränderte. Es sind tragische Geschichten, oft traurige und manchmal sogar, wie in der Erzählung „Zug“, mit dem Zufalls- oder Schicksalsprinzip eines Paul Auster ausgestattet. Aber es sind alles wunderbare, berührende, anmutige und ergreifende Erzählungen.

Alice Munro: „Liebes Leben“, S. Fischer Verlag, Hardcover, 978-3-10-048832-9, 21,99 € 

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