Alexis Ragougneau: Opus 77

Alexis Ragougneau credit Sébastien Leban

Virtuos, schonungslos und emotionsgeladen erzählt Alexis Ragougneau in seinem aktuellen Roman „Opus 77“ die fesselnde Geschichte einer außergewöhnlichen Musikerfamilie

Die Erzählung beginnt und endet auf der Beerdigung von Ariane Claessens Vater, einem berühmten Dirigenten, der zu Lebzeiten über Musiker, ganze Orchester und die eigene Familie allmächtig herrscht. Während dieser Beerdigung bereitet sich Ariane, selbst eine gefeierte Pianistin, in einer Schweigeminute auf ihren wohl schwersten Einsatz am Klavier vor, beobachtet von der sensationslüsternen Trauergesellschaft. Sie hat sich längst entschieden, was sie gleich spielen wird: Opus 77 von Schostakowitsch. Doch noch ist es nicht soweit, sie lässt ihre Gedanken fließen, gräbt in den Erinnerungen und erzählt eine Geschichte voller Musik, Leid und Liebe. In sprunghaften Fragmenten formt sich die Lebensgeschichte der Familie Claessen, emotional und schonungslos, erzählt aus der Sicht von Ariane. Zunächst scheinbar verworren und unwillkürlich, setzt sich das Mosaik im Verlauf zu einem monströsen Gesamtwerk zusammen, das allen Beteiligten die Maske vom Gesicht reißt.      

Wunderkinder, Übervater und eine verlorene Mutter

Alexis Ragougneau Oppus 77 Cover Unionsverlag

Die Charaktere, die Alexis Ragougneau in „Opus 77“ zeichnet, wirken von der ersten Silbe an lebendig, authentisch, fast schon real. Kenner der klassischen Musikszene werden sicher Parallelen zu verstorbenen Künstlern ziehen. Aber auch für Leser*innen ohne entsprechendes Hintergrundwissen entstehen greifbare Figuren, deren Empfindungen man selbst spürt, deren Lebensgeschichte berührt. Da wäre der Vater, der über allem und jedem thronende Maestro, dessen Karriere als begnadeter Pianist begann. Weltweit zu Gast in den renommiertesten Einrichtungen, lernt er in Tel Aviv seine zukünftige Frau Yael kennen – eine aufstrebende Sopranistin. Geeint durch die Musik, überdurchschnittliches Talent und den Takt der Liebe, lässt die junge Frau ihr bisheriges Leben, ihre kulturelle Vergangenheit und ihre Familie hinter sich, um mit Claessen eine gemeinsame Zukunft in Europa zu beginnen. Es folgt die Hochzeit, ein Umzug von Frankreich in die Schweiz, gekrönt von zwei musikalischen Wunderkindern, David und Ariane.

Der äußere Schein und das innere Sein

Stehende Ovationen, keine Geldsorgen, Luxus, Ruhm und Ehre, Reisen um die ganze Welt – könnte das Leben schöner sein? Doch hinter der Fassade dieser perfekten Familie zeichnet sich ein anderes Bild. Mit dem stetigen Aufstieg des Vaters bis zum Chefdirigenten des Orchestre de la Suisse Romande beginnt der Abstieg der Mutter. Und die beiden Kinder werden unvermeidbar Zeugen dieses unaufhaltsamen, zerstörerischen Prozesses. David, der in sich verlorene Sohn, verborgen hinter seiner Violine, ein sanftes, introvertiertes Ausnahmetalent, rebelliert auf eine stumme Weise. Die zwei Jahre jüngere Tochter Ariane, immer zwischen den Stühlen, entwickelt sich zur preisgekrönten Pianistin mit selbstzerstörerischen Ausprägungen. Für fremde Augen selbstbewusst, fesselnd schön und unnahbar kalt, zum hilflosen Zusehen beim Entzweien ihrer Familie verdammt.  

Eine virtuose Erzählung von Alexis Ragougneau

Während der Lektüre spürt man förmlich die Kraft der Musik, lauscht den Tönen zwischen den Zeilen, umhüllt von Ragougneaus kontrastreicher Sprachrhythmik – mal sanft und harmonisch, mal schonungslos und prägnant. Bemerkenswert ist auch der unverklärte Blick hinter die Kulissen der Weltbühnen und des Musikgeschäftes von damals und heute, der die Schattenseiten von Macht, Zensur, Diktatur, Vetternwirtschaft und Kommerz aufzeigt. Diese Thematik lässt Ragougneau durch Nebenfiguren, wie etwa Arianes Agent Miroslav oder Davids Geigenlehrer Krikorian, gekonnt einfließen und macht sein Werk somit aktueller denn je.   

Alexis Ragougneau: „Opus 77“, Unionsverlag, Hardcover, 224 Seiten, 978-3-293-00580-8, 22 Euro. (Beitragsbild von Sébastien Leban)

Erhältlich bei unseren Partnern:

Unterstützen Sie Sounds & Books

Auch hinter einem Online-Magazin steckt journalistische Arbeit. Diese bieten wir bei Sounds & Books nach wie vor kostenfrei an.
Um den Zustand zukünftig ebenfalls gewährleisten zu können, bitten wir unsere Leserinnen und Leser um finanzielle Unterstützung.

Wenn Sie unsere Artikel gerne lesen, würden wir uns über einen regelmäßigen Beitrag sehr freuen.

Spenden Sie direkt über PayPal oder via Überweisung.

Herzlichen Dank!

Kommentar schreiben