Alben des Jahres 2024 von Werner Herpell

Vampire Weekend Credit Michael Schmelling

Die Alben des Jahres 2024 von Sounds & Books-Mitarbeiter Werner Herpell. Natürlich mit Vampire Weekend, Leif Vollebekk, Cassandra Jenkins – und auch wieder mit einigen überraschenden Nominierungen aus Indie-Pop, World-Music und Jazz.

Das Wichtigste, auch wohl Unbestreitbarste, gleich vorab: 2024 war ein gutes Musikjahr, ein sehr gutes sogar. Selten gab es auf den Rängen 10 bis 25 so viele Alben, die bei mir früher locker locker einstellig ins Ziel gekommen wären: The Smile, Nick Cave, die Villagers und Jack White etwa, die allesamt in der Vergangenheit weit vorne lagen. Und weil der Jahrgang so stark war, gibt es auch gleich zwei Platten auf der Pole Position.

Ich konnte mich, auch wegen ihrer so unterschiedlichen Großartigkeit, ausnahmsweise nicht dafür entscheiden, einen dieser Juwelen vor dem anderen zu platzieren. Die Serien-Sieger Wilco – 2022 mit „Cruel Country“ und 2023 mit „Cousin“ meine Jahres-Champions, diesmal „nur“ mit einer (freilich äußerst gelungenen) EP am Start – sind an der Spitze also abgelöst: von einer über bisher fünf Alben offensichtlich unfehlbaren US-Artpop-Band (es waren zudem meine absoluten Live-Favoriten) sowie einem hochtalentierten kanadischen Folkrock-Songwriter, der sich in jeder Hinsicht selbst übertraf. Dies sind – verziert mit  insgesamt 32 Playlist-Song-Tipps – meine zehn (eher elf) …

Alben des Jahres 2024

1. Vampire Weekend: Only God Was Above Us

Kommerziell das schwächste Album des Trios um Sänger und Songwriter Ezra Koenig (leider leider, und warum bloß?). Dafür ist die erste Platte von Vampire Weekend seit dem soften „Father Of The Bride“ (2019) künstlerisch – und auch was ihren Erfolg bei der Pop-Kritik angeht – ein veritabler Triumph. Was für ein üppiger Ideenreichtum bei der Studioproduktion, welch wunderbar vertrackte Arrangements und tolle Vocals, wie viel Liebe zum Detail, vom Cover-Artwork über die Texte bis zu den famosen Kompositionen. Der geniale VW-Mix aus Art-Rock, Paul-Simon-Folk, Talking-Heads-Funk, Punk-Pop und World-Music-Einflüssen funktionierte hier besser denn je. Und dann gaben Ezra Koenig, Chris Tomson, Chris Baio & Co. im Dezember in Amsterdam auch noch das fantastischste Konzert dieses Jahres (mindestens – sorry, Bruce…).

Vier für die 2024-Playlist: „Classical“, „The Surfer“, „Mary Boone“, „Hope“. (Beitragsbild: Vampire Weekend, Credit: Michael Schmelling)

1. Leif Vollebekk: Revelation

Ja, es war wirklich eine Offenbarung (also „Revelation“), das fünfte Album des inzwischen zum Meister gereiften Künstlers aus dem kanadischen Ontario. Schöner und überwältigender hat seit Ewigkeiten niemand mehr dem großen Songwriter-Folkrock und Piano-Pop der 70er so kundige Reverenz erwiesen. Man hört aus Vollebekks auf höchstem Niveau produzierten Liedern US-Legenden wie Jackson Browne, Bruce Springsteen, Randy Newman oder Eric Carmen heraus, aber auch die noch jungen, damals echt guten Briten Elton John und Rod Stewart jener goldenen Zeit. Wie der Kollege Gérard Otremba schon schwärmte: „Revelation“ kann den Hörer verzücken und sogar zu Tränen rühren – ohne auf die Kitsch-Drüse zu drücken, denn dafür ist dieses Americana-Menü viel zu geschmackssicher angerichtet.

Vier für die 2024-Playlist: „Southern Star“, „Surfer’s Journal“, „Mississippi“, „Sunset Boulevard Expedition“

3. Cassandra Jenkins: My Light, My Destroyer

„Ein neuer Stern am Singer-Songwriter-Himmel: Spätestens mit Album Nummer drei findet Cassandra Jenkins dort ihren verdienten Platz“ – so lautete mein Fazit zur erstaunlichen Platte einer Musikerin, die, nach Jahren im Halbschatten des Indie-Pop-Business, eine enorme stilistische Bandbreite und große Brillanz offenbarte. 90s-Alternative-Rock, ätherische Balladen, Ambient, Spoken-Word-Passagen und Field-Recordings verwebte Cassandra Jenkins noch besser als auf dem hochgelobten Vorgänger „An Overview On Phenomenal Nature“ (2021) zu einem neuen Artpop-Referenzwerk.

Drei für die 2024-Playlist: „Devotion“, „Tape And Tissue“, „Only One“

4. Chrysanths: Leave No Shadow

Dass dies „ein Album für die Jahresbestenlisten“ ist, spürte ich schon im September, als „Leave No Shadow“ bei einem kleinen Indie-Label erschien. Verbunden mit der Hoffnung, dass möglichst viele Brit-Folk-Gourmets diese hauchzarten, von Nick Drake, Sandy Denny und Kate Bush beeinflussten Song-Preziosen entdecken. Die Songwriting- und Arrangement-Künste der Emily Scott, ansonsten bei der Glasgower Band Modern Studies aktiv, hätten viele Hörer verdient (Cassandra-Jenkins-Fans können hier übrigens problemlos andocken). Das beste Album dieses Jahres aus Schottland respektive UK.

Drei für die 2024-Playlist: „Rising“, „Landscapes“, „Stones“

5. The Magic Lantern: To Everything A Season

Wie Emily Scott verbirgt sich auch der britisch-australische Songschreiber Jamie Doe hinter einem eher rätselhaften Pseudonym. Und wie die Schottin macht er mit einigen befreundeten Jazz- und Folk-Koryphäen als The Magic Lantern Lieder für die ruhigen, besinnlichen Stunden des Tages. An Conor O’Brien (Villagers), Sam Beam (Iron & Wine) oder Will Stratton erinnern diese zunächst bescheiden anmutenden, immer mehr ans Herz wachsenden Songs und der leise, intensive Vortrag des Sängers aus London, der auf einem anrührenden Album den Tod des Vaters und die Geburt der Tochter verarbeitet.

Drei für die 2024-Playlist: „Trembling“, „Two In One“, „Sweetheart“

6. Iron & Wine: Light Verse

Apropos Pseudonym, apropos Sam Beam: Der scheue US-Singer-Songwriter hat seine Formkrise offenkundig hinter sich gelassen, nachdem auch der Anlauf zu „Light Verse“ zunächst schwierig verlief. Ein Zusammenspiel mit der noch zurückgezogeneren Fiona Apple – mein Duett des Jahres – war dann das Startsignal für ein von herrlichen Streichern und bezaubernden Folk-Melodien geprägtes Werk, in dem sogar leichte Afropop-Texturen ihren Platz fanden.

Drei für die 2024-Playlist: „All In Good Time“, „Taken By Surprise“, „Angels Go Home“

7. Blue Rose Code: Bright Circumstance

Wer gern und oft nach Schottland reist (wie dieser Schreiber), wird immer wieder tolle musikalische Neuentdeckungen aus Edinburgh, Glasgow oder Dundee mitbringen. In diesem Jahr war es neben dem weiter oben erwähnten Chrysanths-Album der so mitreißende wie herzergreifende Celtic-Soul und Folk-Rock von Ross Wilsons formidabler Band Blue Rose Code, der ebenso an Van Morrison oder John Martyn gemahnte wie an die Waterboys oder Del Amitri.

Drei für die 2024-Playlist: „Jericho“, „Peace In Your Heart“, „Now The Big Man Has Gone On“

8. Rogê: Curyman II

Manchmal dauert es eben etwas länger bis zur Gerechtigkeit. Immerhin musste Roger José Cury alias Rogê fast 50 Jahre alt werden, um über die World-Music-Nische hinaus bekannt zu werden. Was sich mit dem bereits ganz wundervollen Samba-Funk-Album „Curyman“ (2023) andeutete, netzte der Fußballfan (siehe Cover) mit dem Nachfolger „II“ elegant ein. Seine besondere „Música Popular Brasileira“ ist auf der Höhe eines Caetano Veloso oder Jorge Ben angelangt.

Drei für die 2024-Playlist: „Curyman“, „A Força“, „Vida Voa“

9. Father John Misty: Mahashmashana

„Bombast kann er wie kein anderer Popmusiker seiner Generation, dieser Joshua Michael Tillman aka Father John Misty“, schrieb ich zu einem der letzten Album-Highlights dieses Jahres. Und tatsächlich hat der fabelhafte Bariton-Sänger und raumgreifende Performer es wieder einmal geschafft, alle studiotechnische Zurückhaltung konsequent über Bord zu werfen, um in nur acht Songs ein opulentes Musical zwischen Folk, Rock, Funk und Balladen zu inszenieren.

Drei für die 2024-Playlist: „She Cleans Up“, „Josh Tillman And The Accidental Dose“, „I Guess Time Just Makes Fools Of Us All“

10. The Smile: Wall Of Eyes/Cutouts

Als im Januar „Wall Of Eyes“ von der Artrock-Jazz-Supergroup Thom Yorke/Jonny Greenwood/Tom Skinner erschien, war der Jubel riesig. Unerwartet warf das britische Trio im Oktober eine weitere superbe Platte mit frickeligen, verspielten, funkigen Tracks auf den Markt. Für mich sind beide The-Smile-Werke gleich stark, sie ergänzen sich perfekt. Quasi ein Doppelalbum. Die Kehrseite der glänzenden Medaille: Ein Radiohead-Comeback wird damit immer unwahrscheinlicher.

Drei für die 2024-Playlist: „Friend Of A Friend“, „Bending Hectic“, „Eyes & Mouth“

Weitere zehn Lieblingsplatten – knapp dahinter:

Rio 18: Radio Chévere

Der Waliser Carwyn Ellis erfüllt sich mit südamerikanischen Top-Musikern den Traum von einer grenzüberschreitenden Brasil-Latin-Pop-Radioshow. Furios.

Nick Cave & The Bad Seeds: Wild God

Das Album ist meisterhaft, aber live klingt diese Rock-Gospel-Messe des dunklen Predigers Nick Cave fast noch intensiver. Ein im Wortsinn unfassbarer Künstler.

The Nick Drake Remembrance Sonorities: The Days Of Nick Drake. Remembered For A While

Zum 50. Todestag des englischen Folk-Jazz-Genies am 25. November 2024 interpretiert ein belgisches Ensemble acht ikonische Drake-Lieder. Zum Niederknien.

Villagers: That Golden Time

Nach dem fieberhaft psychedelischen „Fever Dreams“ (2021) kehrt Conor O’Brien zu den folkigeren Songs seiner Anfangsjahre zurück. Auch wieder richtig toll.

Wojtek The Bear: Shaking Hands With The NME

Wer auch nur ein bisschen für den wundervollen 80er-Jahre-Gitarrenpop übrig hat, für Lloyd Cole, The Go-Betweens und Aztec Camera – der darf hier jubeln.

Die Nerven: Wir waren hier

Post-Punk und Noise-Rock über „die Risse dieser Welt“ – niemand kann sowas besser als das nervenaufreibende Trio aus Stuttgart/Berlin. Beste deutsche Platte 2024.

Fergus McCreadie: Stream

Das Ensemble des jungen, preisgekrönten Schotten mixt unwiderstehliche Piano-Melodien mit folkloristischen Elementen der Heimat. Jazz-Album des Jahres.

The Pearlfishers: Making Tapes For Girls

„Ein Prachtstück von Comeback-Album“, so mein Urteil im Mai zum erneut üppigst inszenierten Scot-Pop des David Scott. Auch am Jahresende noch ein purer Genuss.

Jack White: No Name

Der umtriebige Bluesrock-Maestro und Labelchef lässt es endlich mal wieder schön garagig krachen. So gut wie seit den seligen White-Stripes-Zeiten nicht mehr.

Communicant: Harbor Song

Einen „Gänsehaut-Effekt“ verspürte ich im Sommer bei diesen an Beatles, Harry Nilsson und Elliott Smith orientierten, seelenvollen Lieder. Ist immer noch so.

Und nun auf ein Neues – mit wieder viel schöner, wohltuender, nachhaltig wirkender Musik – im nächsten Jahr!

Kommentare

  • <cite class="fn">Jürgen Naeve</cite>

    Moin Werner, hast guten Geschmack und immer wieder etwas dabei was ich nicht kenne und in meine Monatsliste übernehme. Auf ein musikalisches 2026 und herzliche musikalische Grüße Jürgen Naeve

  • <cite class="fn">Dirk Heller</cite>

    Naja, David Gilmopur ist noch nicht einmal aufgezeigt. Luck & Strange ist das beste Album des Jahres – von vorn bis hinten ein Gedicht.

    • <cite class="fn">Werner Herpell</cite>

      Das Album von Gilmour ist wirklich gut. Aber für meine ganz subjektive Liste halt nicht gut genug. Und letztlich ist‘s immer Geschmacksache.

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