Kai Wieland: Meine Top-Ten-Alben

Kai Wieland credit Marijan Murat

Der Schriftsteller Kai Wieland stellt seine zehn Lieblingsalben vor

Zuletzt hatten wir die Liste der Top-Ten-Alben von Michael Kleeberg im Programm, nun präsentiert uns Kai Wieland seine zehn Lieblingsalben. Der in Stuttgart ansässige Autor hat letztes Jahr seinen auch bei Sounds & Books besprochenen Debütroman „Amerika“ bei Klett-Cotta veröffentlicht. Ein hervorragender Roman, der es konsequenterweise in die Liste der zehn besten Bücher des Jahres 2018 geschafft hat. Erfreulicherweise hat sich Kai Wieland bereit erklärt, eine Top-Ten (hier mal in umgekehrter Reihenfolge, aber sogar mit Lieblingssongs zum Anhören) seiner Lieblingsalben für Sounds & Books zu erstellen. Viel Spaß mit der Liste von Kai Wieland (Beitragsbild: Kai Wieland by Marijan Murat)

Die Top-Ten-Alben von Kai Wieland

Das Album und ich: Tja, es ist kompliziert. Ehrlich gesagt war ich schon immer sehr viel mehr auf einzelne Titel fixiert denn auf die zugehörigen Alben, und letztere haben mir – vor allem in der Prä-Streaming-Ära – auch öfter als einmal große Enttäuschung bereitet: irgendwo einen geilen Song aufgeschnappt, mit Glück den Interpreten herausgefunden, voller Vorfreude das Album besorgt … und am Ende trotzdem immer nur den einen Song gehört. In diese Kategorie fallen leider auch viele Bands, die mich mit einem ihrer Songs vollkommen umgehauen haben – Outsider mit Íosa Chroí, Postcards mit Bright Lights, Empathy Test mit Bare My Soul, Spector mit All The Sad Young Men –, mich mit dem jeweiligen Album aber nicht erreichen konnten. Zehn ruhmreiche Ausnahmen von diesem Phänomen präsentiere ich euch in meiner ganz persönlichen Top 10 der Musikalben:

10 – In Flames – Reroute To Remain (2002)

Lieblingssong: Cloud Connected

Erste Assoziation: Meine Zocker-Zeit und ein Frag-Video des schwedischen Counter-Strike-Spielers Dennis „walle“ Wallenberg. Es war mit dem Song Egonomic der ebenfalls schwedischen Metal-Band In Flames hinterlegt, welche bis heute einer der wenigen Vertreter dieses Genres ist, die ich regelmäßig höre, vermutlich, weil sie trotz der Growl- und Scream-Parts unterm Strich für eine eher melodische Art von Metal stehen.

Das Album: Egonomic ist ein energischer Metal-Song, dem viele ähnlich starke Tracks auf diesem umfangreichen Album folgen und vorangehen, aber seinen Höhepunkt hat Reroute To Remain schon früher: Cloud Connected baut zunächst durch das Keyboard und die Lead-Gitarren eine nervenzerfetzende Spannung auf, welche sich schließlich in Anders Fridéns Vocals heftig, aber melodisch entlädt.

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9 – The Naked And Famous – Passive Me, Aggressive You (2010)

Lieblingssong: Punching In A Dream

Erste Assoziation: Tad Williams‘ Saga von Osten Ard, die ich zeitgleich mit dem Erscheinen dieses Albums verschlungen habe. Normalerweise höre ich beim Lesen keine Musik, aber aus unerfindlichen Gründen bildeten Williams‘ Fantasytrilogie und die Elektropop-Songs der neuseeländischen Band eine unerwartet gute Symbiose, die in das perfekte Zusammenwirken von Punching In A Dream und dem Lied von Cathyn Dair in „Der Engelsturm“, dem letzten Band der Saga, mündete.

Das Album: Young Blood war, wenn ich mich recht erinnere, einer der großen Sommerhits in jenem Jahr und untrennbar verknüpft mit diversen Werbespots des Senders Viva. Der daraus resultierende One-Hit-Wonder-Status wurde dem großartigen Album allerdings nicht gerecht, hielt es vom fiebrigen Opener All Of This über das verträumte Eyes bis hin zum tragischen Finale Girls Like You doch eine ganze Reihe von Schätzen bereit.

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8 – Arcade Fire – The Suburbs (Deluxe; 2010)

Lieblingssong: Speaking In Tongues

Erste Assoziation: Die Wut darüber, die Band noch nie live gesehen zu haben, obwohl sie 2011 in meiner Anwesenheit auf dem Southside Festival spielte – ich habe den Auftritt nach einem etwas außer Kontrolle geratenen Nachmittag und dem Konzert von Jimmy Eat World im Suff schlicht verpeilt und könnte mir dafür heute noch in den Arsch treten.

Das Album: Ich habe es nie wirklich geschafft, Studioalben als Gesamtkunstwerke zu begreifen. Meines Erachtens gibt es auf den meisten Platten ein paar gute Songs und einige weniger gute, und die schlechten überspringe ich, fertig und aus. The Suburbs bildet eine der wenigen Ausnahmen und ist definitiv mehr als nur die Summe der einzelnen Titel. Speaking In Tongues, das nur auf der Deluxe-Fassung enthalten ist, gehört aus meiner Sicht zur erzählten Geschichte und ist atmosphärisch die perfekte Ergänzung zum ebenso großartigen Sprawl II. Ein fantastisches Album.

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7 – Stereophonics – Language.Sex.Violence.Other? (2005)

Lieblingssong: Dakota

Erste Assoziation: Ein rotes Cabrio ohne Verdeck, eine Fahrt in den Sonnenuntergang … leider sitze nicht ich am Steuer, sondern Kelly Jones, Sänger der Stereophonics, und es handelt sich um das Musikvideo zu Dakota. Alle späteren Assoziationen betreffen hingegen meine Wenigkeit während zahlloser Stunden auf den Straßen Belgiens, Frankreichs und Islands, denn der Song landet mittlerweile auf jeder meiner Roadtrip-Playlists.

Das Album: Devil, Dakota, Deadhead … Kellys Stimme ist eine Offenbarung (auch bei Titeln, die nicht mit D beginnen), und überhaupt sind die Waliser ein Phänomen, denn sie fabrizieren niemals auch nur einen schlechten Song. Ich habe keine Ahnung, warum nicht viel mehr Leute sie hören, aber vielleicht ist es auch eine Altersfrage, denn ich habe auf Konzerten festgestellt, dass ich den Altersschnitt im Publikum deutlich senke.

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6 – Angels & Airwaves – We Don’t Need To Whisper (2006)

Lieblingssong: The Adventure

Erste Assoziation: Ein Youtube-Zusammenschnitt von Toren des spanischen Stürmers Raúl, damals noch im Dienste von Real Madrid. Es kostete mich Stunden, das Video in unzähligen Foren zu posten, ehe mir endlich jemand Songtitel und Interpret nennen konnte. Einige Jahre später tourten die Jungs um Tom DeLonge aus „Cali-fucking-fornia!“ durch Europa und ich fuhr mit dem Zug nach Luxemburg zu meinem ersten Livekonzert.

Das Album: Valkyrie Missile, der erste Track des Albums, ist das Blätterrauschen vor dem Sturm. Es beginnt unaufdringlich, gewinnt dann aber zunehmend an Fahrt und steigert sich, seinem Titel alle Ehre machend, zu einem Geschoss. The Adventure überstrahlt alles, und It hurts ist eine mitreißende Hymne auf das Zurückgewiesenwerden.

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5 – FONTAINES D.C. – Hurricane Laughter/Winter In the Sun (2018)

Lieblingssong: Hurricane Laughter

Erste Assoziation: Das Gaukurinn in Reykjavík und eines der besten Konzerte meines Lebens während des Iceland Airwaves 2018. Kaum jemand schien die Band bis dato zu kennen. Die Menge stand dicht gedrängt, aber regungslos, höchstens leicht irritiert vom eigenartigen Auftreten insbesondere des Sängers Grian Chatten, der, wie ich mittlerweile weiß, nicht nur mich vage an Ian Curtis erinnert. Vier Songs später brach der Club beinahe auseinander, Bierbecher flogen durch die Luft und Menschen kletterten auf die Bühne, um sich von der wabernden Masse durch den engen Raum tragen zu lassen.

Das Album: Zugegeben, ich habe ein bisschen getrickst, um die Jungs aus Dublin in dieser Liste unterzubekommen. Genau genommen gibt es nämlich noch kein Studioalbum, sondern lediglich vier EPs mit jeweils zwei Songs, die sich aufsummiert aber locker einen Platz in meiner Top 10 verdienen. Aktuell nehmen die Iren in London ihr erstes richtiges Album auf, das, wie ich hoffe, ihre bisherigen Singles umfassen oder jedenfalls musikalisch an diese anknüpfen wird: Absurd guter Rock ’n‘ Roll mit Post-Punk-Einschlag, poetischen Lyrics, einem gesunden Maß an Wut und Verachtung für die Gesellschaft und einem charmanten irischen Akzent.

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4 – Joy Division – Substance (1988)

Lieblingssong: Atmosphere

Erste Assoziation: Die Halloween-Szene aus dem Kultstreifen „Donnie Darko“. Ich liebe diesen unheimlichen, unheimlich komplexen und zugleich heimlich komischen Film, kann aber aus verschiedenen Gründen nur davon abraten, sich den Director’s Cut anzusehen, und einer dieser Gründe ist die Tatsache, dass Regisseur Richard Kelly am Soundtrack herumgespielt hat. Zum Glück blieb wenigstens das zeitlose Meisterwerk Love Will Tear Us Apart von Joy Division an Ort und Stelle und verleiht der Szene weiterhin ihre zerbrechliche Schönheit.  

Das Album: Substance war, wie es der Name schon andeutet, eine Verwertung von bestehenden Songs, welche die Londoner Band um Ian Curtis zwischen 1977 und dessen Tod 1980 aufgenommen hatte und die zuvor bereits in unterschiedlichen Formaten separat erschienen waren. Zu diesen zählte nicht nur der Welthit Love Will Tear Us Apart, sondern auch die im besten Sinne alptraumhaften Songs Transmission und Digital sowie vor allem die atemberaubend schöne Elegie Atmosphere, eine fatalistische Hymne, bei der sich Ian Curtis‘ dunkle Stimme fast teilnahmslos über die Szenerie legt.

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3 – Augustines – Rise Ye Sunken Ships (2011)

Lieblingssong: Juarez

Erste Assoziation: Maßlose Trauer darüber, dass sich diese einmalige Alternative-Rock-Band nach nur drei Studioalben – boten diese auch Hammer-Songs in einer Fülle, für die andere zehn Alben benötigen – wieder aufgelöst hat. Mein Gott, was hätten wir nicht alles zusammen erleben können, liebe Augustines! Ich, schwebend, auf euren Konzerten! Ihr, spielend, auf meiner Beerdigung!

Das Album: Als ich die ersten Takte des Chapel Song hörte, wusste ich gleich, dass ich alles richtig gemacht hatte, aber Augustine, Book Of James und insbesondere Juarez, in dem sich die krasse Biografie von Sänger Billy McCarthy spiegelt, haben mich endgültig umgehauen.

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2 – U2 – The Joshua Tree (1987)

Lieblingssong: With Or Without You 

Erste Assoziation: Der Amoklauf von Winnenden, das nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt liegt, an dem ich aufgewachsen bin. Ich war damals selbst noch Schüler und verfolgte die Berichterstattung den ganzen Tag über im Radio. Irgendwann im Laufe des Nachmittags wurde in einer kurzen Musikpause With Or Without You gespielt, und obwohl der Titel inhaltlich keine Berührungspunkte mit den Ereignissen jenes Tages hatte, empfand ich dieses bittersüße Gemisch aus Traurigkeit und Euphorie mit seinem frenetischen Gitarrenriff am Ende als eigentümlich passend und sogar tröstend.

Das Album: Der grandiose Einstieg in dieses Album – mit With Or Without You an Nummer 3 – wäre für sich genommen schon Grund genug, es in meine Top 10 zu katapultieren. Das sanft dahinfließende Mothers Of The Disappeared bildet überdies ein stimmiges Ende, dazwischen fallen hervorragende Songs wie In God’s Country, die auf jedem anderen Album wahrscheinlich zum Top-Titel avanciert wären, fast schon ein wenig ab – ein Jahrhundertteil!

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1 – White Lies – To Lose My Life (2009)

Lieblingssong: To Lose My Life

Erste Assoziation: Die Erkenntnis, dass Attraktivität und Anziehungskraft für mich ein ewiges Mysterium bleiben. Während des Studiums besuchte ich mit zwei Kommilitoninnen ein Konzert der White Lies in München, und beide Frauen schwärmten davon, wie attraktiv Harry McVeigh, der Sänger der Band, sei, während er in meinen Augen ein vollkommen durchschnittlich aussehender, wenn auch überdurchschnittlich begabter Musiker ist. Ich zog daraus den Schluss, dass Menschen schlagartig attraktiver werden, wenn sie sich eine Gitarre umhängen, und genau das tue ich seitdem regelmäßig im verzweifelten Bemühen, mir alle in dieser Liste erwähnten Songs beizubringen.

Das Album: Angesichts seines Titels istDeath ein erstaunlich freundlicher und noch dazu mitreißender Einstieg in das Album, gefolgt vom sehr viel dunkleren To Lose My Life und dem euphorischen A Place To Hide ein gigantischer Auftakt, und es geht nahtlos so weiter: das todtraurige Klagelied From The Stars, der kühle Sound von E.S.T., der sich langsam bis zum großen Finale aufbauende Trommelwirbel von Farewell To The Fairground. Das Album mag in seiner Grundstimmung sehr düster sein, aber in dieser Düsternis ist es vollkommen.   

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Herzlichen Dank an Kai Wieland für die Vorstellung seiner Top-Ten-Alben bei Sounds & Books.

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