Marvin Gaye: You’re The Man – Albumreview

Marvin Gaye You're The Man Cover Tamla Motown Universal Music

Das verschollene Marvin Gaye-Album ist da

Vor fast 35 Jahren wurde Marvin Gaye von seinem eigenen Vater während eines Streits erschossen – jetzt wurde postum sein Album „You’re The Man“ veröffentlicht, das Stücke versammelt, die Gaye direkt nach seinem Erfolgsalbum „What’s Going On“ aus dem Jahr 1971 geschrieben hat. Die Sensation ist eine, die sich wiederholt: Es ist bereits das vierte Gaye-Album, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Das Album, das nun mit 47 Jahren Verspätung erscheint, versammelt Soloaufnahmen aus dem Jahr 1972 – aus jenem Jahr also, in dem Gaye auf dem Höhepunkt seines Erfolges ist. Sein Label Motown, das gerade von Detroit nach LA verzogen war, erwartet ein neues Hit-Album, so die Legende. Eine Aufgabe, an der Gaye zu zerbrechen droht. Diese Zerrissenheit steckt auch in den Songs von „You’re The Man“, die gemeinsam mit verschiedenen Motown-Songwritern und bewährten Hit-Produzenten von Barry Gordys Label entstehen.

Der titelgebende, siebenminütige Einsteiger

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Das Werk beginnt mit dem siebenminütigen Titelsong „You’re The Man“, der damals als Single erschienen war – als Ankündigung des Albums. Der Song, dem Gaye-Klassiker „Inner City Blues (Make Me Wanna Holler)” nicht unähnlich,  ist ein klassischer, im Falsett gesungener Gaye-Knaller, in dem er zu funkigen Wah-Wah-Gitarren über das Übel in der Welt singt, um zu resümieren: „Don’t you understand? There’s misery in the land.”

Politische Song, düstere Songs, nervöse Songs, die Zukunftsangst artikulieren wie „The World Is Rated X“ oder auch ganz persönliche Stücke wie „Piece Of Clay“ bestimmen den Anfang. In „Piece Of Clay“ beschreibt Gaye das schwierige Verhältnis zu seinem Vater, um ihn zu beschwören: „father, stop criticising your son“. „Pieces Of Clay“ gehört zu den ganz großen Balladen Gayes – eines seiner schönsten Stücke überhaupt.

Marvin Gaye und die Frage nach der Zukunft

Mit „Where Are We Going“, in dem Gaye noch einmal die ganz große Frage nach der Zukunft stellt, geht die Reihe von monumentalen Nummern auf diesem Album langsam zu Ende. Es folgen Stücke wie „I’m Gonna Give You Respect“ und „Try It, You’ll Like It“, eher schwächere R&B-Nummern – so wie auch „You Are That Special One“ und „We Can Make It Baby“ nicht an die Kraft des Anfangs anknüpfen können. „My Last Chance“ schließlich, neu abgemischt von Salaam Remi, ist übersüße, zuckrige Soul-Romantik.

So ist „You’re The Man“ ein ambivalentes Album mit insgesamt 17 Stücken, das explizites Nicht-Einverstanden-Sein, das Texte über race relations, Armut, Arbeitslosigkeit, Verelendung und Inflation, das harte Anklagen an die Nixon-Regierung mit hitträchtigen Feelgood-Schnulzen und erotisch aufgeladenem, sinnlichen Sex-Funk-Soul mischt – und dabei auch wahnsinnig Großartiges wie die Anti-Vietnam-Ballade „I Want To Come Home For Xmas“ zu bieten hat.

Das Bindeglied zweier ikonischer Alben

Ob es nun wirklich Barry Gordy war, der „You’re The Man“ nicht erscheinen ließ, weil er lieber unpolitische Hits von Gaye veröffentlichen wollte, darüber spekulieren Fachleute seit Dekaden. Immerhin ist auch „What’s Going On“ bei Motown erschienen – eine Platte, die explizit politisch war. Ein Jahr später wird „Let’s Get It On“ herauskommen. Nun liegt das fehlende Bindeglied zwischen den beiden ikonischen Alben von Marvin Gaye vor.

„You’re The Man“ ist ganz Gaye, denn es ist ein Dokument der ewigen Zerrissenheit eines Pastorensohnes, dessen Werk gerade in seiner Widersprüchlichkeit schillert. Ob Gaye nun ein politischer Protestsänger oder nur ein Schlafzimmer-Smooth-Soul-Crooner mit durchaus misogynen Zügen war, der Zeilen wie „Darling, you’re my rhapsody“ schmachtet, darüber wird man sich beim Hören dieses Werks erneut trefflich unterhalten können. Die Antwort ist indes einfach: Er war beides!

„You’re The Man“ von Marvin Gaye ist am 29.03.2019 bei Tamla / Motown / Universal erschienen (Beitragsbild: Albumcover).

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