Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Mary Shelley Frankenstein Cover Manesse

Der zeitlose Geniestreich der Mary Shelley

Gemeinsam mit ihrem Mann Percy reiste Mary Shelley im Sommer 1816 in die Schweiz und fand sich in der Nachbarschaft von Lord Byron am Genfer See wieder. Der Sommer sei „unfreundlich“ gewesen und aufgrund „des unablässigen Regens mussten wir oft tagelang zu Hause bleiben“, schreibt Mary Shelley in der Einleitung der Neuauflage ihres Romans „Frankenstein“ von 1831, die im Anhang der Manesse-Neuausgabe zu finden ist. Die Shelleys, Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori lasen vom Deutschen ins Französische übersetzte Gespenstergeschichten und angeregt von einem Vorschlag Byrons versuchten sich die vier Dichter an der Ausarbeitung eigener Schauergeschichten.

Victor Frankensteins Experiment

Mary Shelley Frankenstein Cover Manesse

Als Mary Shelleys Ergebnis „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ 1818 im Original erschien, war die Schriftstellerin gerade einmal 20 Jahre jung und hinterließ der Welt einen der berühmtesten Romane der Romantikepoche sowie der Literaturgeschichte.  In Briefen und Tagebuchaufzeichnungen des Nordpolarforscher Robert Walton erfahren wir von einem völlig erschöpften, im Eis des Nordens verfolgten, sich seiner Rettung wehrenden Mannes, der sich als ein gewisser Victor Frankenstein entpuppt. Walton zeichnet die aus der Ich-Perspektive erzählte Geschichte Frankensteins auf, der als begabter Naturwissenschaftler aus der Schweiz an die Universität Ingolstadt zieht. Euphorisiert durch die Schriften von Cornelius Agrippa, Paracelsus und Albertus Magnus macht sich der junge Victor Frankenstein „mit Feuereifer auf die Suche nach dem Stein der Weisen und dem Lebenselixier“. Das Ergebnis seiner zweijährigen Forschungsstudien der Chemie ist die Erschaffung eines zusammengeschusterten, circa 2,50 Meter großen, menschenähnlichen Körpers, dem Frankenstein Leben einhaucht.

Die Rache der künstlichen Schöpfung

Lieder ist diese Kreatur nicht die schönste des Landes geworden, ihr Schöpfer selbst wendet sich mit Entsetzen von ihr ab. Als neugeborener Erwachsener stolpert das Wesen weder gut noch schlecht, sondern naiv durch das Leben. Er ernährt sich vegetarisch, lernt die Sprache und das Denken durch Beobachtungen, doch sein missgestaltetes Äußeres wird ihm immer wieder zum Verhängnis. Angst, Furcht, Ablehnung, Wut und Hass prasseln auf ihn, sobald er sich aus der Deckung traut. Aufgrund seiner Erfahrungen sinnt er auf Rache und bringt Frankensteins kleinen Bruder und seinen Vater um. Als Victor Frankenstein ihm den Wunsch verweigert, ein weibliches Pendant zu kreieren, setzt das Wesen die systematische Vernichtung seines Schöpfers fort, bis hin zu einer Hetzjagd durch verschiedene Länder.

Mary Shelley und die Mythen

Stilistisch von zeitloser Eleganz und mit überwältigenden Naturbeschreibungen ausgestattet, fasziniert Mary Shelleys „Frankenstein“-Roman noch 200 Jahre nach seiner Erscheinung. Die Frage der Fragen nach den Grundlagen sowie der Erschaffung künstlichen Lebens wirft Mary Shelley in wissenschaftlicher, philosophischer und alchimistischer Weise auf. Ähnlich geht die britische Schriftstellerin mit den Auswirkungen des sozialen Umfelds auf die Identitätsprägung um. Shelley bedient sich der Prometheus-, Faust-, und Luzifer-Mythen, greift ausgiebig auf Miltons „Verlorenes Paradies“ und biblische Verweise zurück und taucht abgrundtief in die Psyche Frankenstein und seiner Schöpfung ein. Die Geschichte des namenlosen Wesens, die Mary Shelley aus dessen Perspektive erzählt, berührt zutiefst. Eine Figur, die eben nicht als Monster erschaffen wurde, sondern Mangels Akzeptanz und Liebe zum alttestamentarischen Rachengel mutiert. Ein literarischer Geniestreich von ewig aktueller Brisanz und Empathie.

Mary Shelley: „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“, Manesse, die Urfassung von 1818, aus dem Englischen übersetzt und in neuer Überarbeitung herausgegeben von Alexander Pechmann, mit einem Nachwort von Georg Klein, Hardcover, 464 Seiten, 978-3-7175-2370-3, 22 € (Beitragsbild: Buchcover).

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