Rolling Stone Weekender 2018 – Festivalreview

Rolling Stone Weekender 2018 Anna Calvi

Zehn Jahre Rolling Stone Weekender

Die Jubiläumsausgabe des Rolling Stone Weekenders reicht zurück in die Anfangszeit. Bereits im Premierenjahr 2009 waren The Flaming Lips Headliner am ersten Tag des Indoor-Festivals am Weissenhäuser Strand an der Ostsee und in der Zwischenzeit kann Sänger Wayne Coyne den Ortsnamen fehlerfrei aussprechen. Seinerseits war das Festival noch lange nicht Monate im Voraus ausverkauft und man konnte um 18 Uhr im Witthüs vor circa 50 Menschen im Publikum einem gewissen Cory Chisel und seiner Begleitband The Wandering Sons in aller Gemütlichkeit lauschen. Längst hat sich der Rolling Stone Weekender als das bedeutendste Indoor-Festival des Rock-Pop-Genres in Deutschland herauskristallisiert. Die gut 4000 Eintrittskarten für die zehnte Ausgabe des Weekender waren in circa zwei Monaten ausverkauft. Und mit dem Rolling Stone Park erhält der Weekender zum 10-jährigen Bestehen noch eine zusätzliche Bruder/Schwester-Veranstaltung im Süden Deutschlands.

Die Highlights der letzten Jahre beim Rolling Stone Weekender

Namhafte Grüßen zog es in den vergangenen Jahren zum Weekender an den Weissenhäuser Strand. Wilco, die beste Band der letzten 20 Jahre trat schon dreimal auf (2009, 2011, 2016), Tocotronic, The National, Fleet Foxes, Midlake, Teenage Fanclub, John Hiatt, Tindersticks, The Gaslight Anthem (alle 2010), Ron Sexsmith (2015) und zuletzt Dinosaur Jr. (2016) sowie Madness im letzten Jahr. Die Ankündigung von Ryan Adams als zweiten Headliner für 2018 löste Euphorie aus, seine Absage vor wenige Wochen trübte indes die Vorfreude. Mit Element Of Crime konnte jedoch nicht nur eine der besten deutschsprachigen Bands kurzfristig verpflichten werden, sondern ebenfalls eine mit Weekender-Erfahrung (2010, 2015).

Nada Surf, Ryley Walker und Father John Misty

Genauso wie Nada Surf, der Opening Act am Freitag, 09.11.2018. Das New Yorker Quartett um Sänger und Gitarrist Matthew Caws hatte schon 2011 das Vergnügen, beim Rolling Stone Weekender aufzutreten und ihr melodiöser Indie-Power-Pop-Rock mit Brit-Pop-Attitüde und zeitweisem balladesk-melancholischen Americana-Pastiche war ein feiner Auftakt für die zehnte Ausgabe des Rolling Stone Weekenders. Ein kurzer Blick in den Baltic-Festsaal zu Ryley Walker, der unverständliche Ansagen in sein Mikro nuschelt und mit seiner dreiköpfigen Begleitband aus Gitarre, Bass und Schlagzeug zu virtuosen Blues-Rock-Jams neigt, und weiter geht es im Zelt mit Father John Misty.

Josh Tillman, der ehemalige Drummer der Fleet Foxes, hat sich mit seinen unter dem Moniker Father John Misty veröffentlichten Alben I Love You, Honeybear, Pure Comedy und zuletzt God’s Fovorite Customer zu den amerikanischen Top-Songwritern gesellt. An manchen Stellen geriet der Sound seiner sechsköpfigen Band etwas zu laut und undifferenziert, aber Father John Misty hat natürlich die gravitätischen und edlen Songs in seinem Repertoire, die etwaige Opulenz entschuldigen. Und „Pure Comedy“ und „I Love You, Honeybear“, mit denen Tillman sein Konzert beschloss, sind natürlich großer Songwriterkino.

Cass McCombs und Kettcar

Wiederum nur eine Foto-Stipvisite war im Baltic-Saal möglich, wo der kalifornische Songwriter Cass McCombs bereits mit dem Opener „Sleeping Volcanoes“ (bei Sounds & Books bereits als Song des Tages vorgestellt) seine ganze Klasse zeigte. Ein zwar düsterer, aber extrem genialer Song, den McCombs punktgenau mit seiner Band präsentierte und der ein ähnlich formidables Album erhoffen lässt wie Mangy Love. Ein hervorragender Musiker. Auf der großen Bühne nahmen derweil Kettcar aus Hamburg Aufstellung. Eine perfekt aufgestellte Mannschaft aus fünf Spielern, die mit „Trostbrücke Süd“ aus dem aktuellen Album „Ich vs. Wir“ begann und das Publikum im Handumdrehen auf seine Seite zog.

Eine Hymne mit dem ewig genialen Satz „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser“ am Anfang eines Konzertes kann nur funktionieren. Mit „Graceland“ und „Money Left To Burn“ ging es weiter und wie schon beim Hamburg-Konzert wies Sänger Marcus Wiebusch gerne darauf hin, dass Humanismus nicht verhandelbar sei, eine bessere Rechtfertigung für einen Song wie „Sommer `89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ kann es nicht geben. Drei Liebeslieder hintereinander spielten Kettcar, darunter mit „Balu“ einen der wohl schönsten Songs in deutscher Sprache dieses Genres. Launige Ansagen, abwechslungsreiche Setlist, Kettcar ragen bei jedem Festival heraus.

Die Höchste Eisenbahn und The Flaming Lips

Das tun auf ihre Weise auch Die Höchste Eisenbahn, aber dezenter. Ihrem Gig beim Rolling Stone Weekender, der aus älteren wie „Timmy“ (das letzte Album Wer bringt mich jetzt zu den anderen erschien 2016) und neuen, noch nicht veröffentlichten Songs, die immer eine perlende Leichtigkeit vermitteln, wo manche Schwere vermuten, hätte man gerne länger beigewohnt. Aber die neuen Stücke sind vielversprechend, wir sind gespannt auf ein neues Album. Für den spektakulären Abschluss des ersten Tages des Rolling Stone Weekenders 2018 sorgten dann also The Flaming Lips. Ein farbenfroher, schriller Auftritt mit reichlich Konfetti und vielen großen Luftballons. Die Show gehört bei den Flaming Lips dazu.

Ihr Indie-Future-Space-Glam-Pop-Rock kommt nicht ohne Gimmicks aus. Sänger Wayne Coyne ist der liebenswerteste schräge Vogel des Pop-Business. Er gleitete auf einem Einhorn durch die Menge, ließ sich während des David Bowie-Covers von „Space Oddity“ in einem großen Ballon über die Köpfe des Publikums rollen und forderte die Besucher immer wieder dazu auf, für ihr Vergnügen zu schreien. Das macht man doch für so einen Beschwörer gerne einmal. Am Ende gab es für die Zugabe „Do You Realize?“ als Belohnung noch einen Regenbogen (und noch mehr Konfetti). Alles so schön bunt hier.

Mit Sophia Kennedy hinein in den zweiten Tag

Den zweiten Tag des Rolling Stone Weekenders 2018 eröffnete in musikalischer Hinsicht Sophia Kennedy.  Die in Hamburg lebende Songwriterin mischte am Keyboard und in Begleitung von Mense Reents an Bass und Knöpfchenpult im Baltic-Saal Electro-Pop mit R&B, legte viel Soul in ihre Stimme, die an Amy Winehouse und Souldiven de 60er-Jahre erinnerte. Mystische Effekte, Piano- und French-Pop mit Sixties-Flair und jazzigen Untertönen. Tricky war zwar gar nicht beim Weekender dabei, tricky jedoch ist die Musik von Sophia Kennedy.

Die Offenbarung des Weekenders: Car Seat Headrest

Man kennt das Phänomen. Man erhält von jemanden einen Musiktipp, oder schnappt einen neuen Namen in der einschlägigen Fachpresse auf, schafft es aber nicht, sich zeitnah mit der Musik zu beschäftigen, behält den Namen jedoch im Hinterkopf. Und dann kommt der Tag, an dem man völlig unvoreingenommen in ein Konzert besagter Künstler spaziert. Und als ein neuer Mensch das Konzert wieder verlässt, weil man Zeuge einer Offenbarung wurde.  Okay, geschieht nicht häufig, aber am Samstag, 10.11.2018, ab 17.30 Uhr im Zelt des Rolling Stone Weekenders begann einer dieser magischen Musikmomente, der 75 Minuten andauern sollte.

Car Seat Headrest heißt die amerikanische Band um Sänger und Songwriter Will Toledo, die so ziemlich alles auf dem diesem Festival in den Schatten stellte. Dass die sieben jungen Herren  sich plötzlich mitten während des Songs „Sober To Death“ Neil Youngs Klassiker „Powderfinger“ in schönster Crazy Horse-Manier einverleibten, verwunderte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wirklich. Es war einer von vielen genialen wie überwältigenden Augenblicke dieses Auftritts, der die bereits zahlreichen Zelt-Gäste in euphorische Stimmung versetzte. Car Seat Headrest spielten einen Indie-Rock, der wahnsinnige Gitarrenauswüchse mit lupenreinen „Uhuhuh“-Harmoniechören verschmolz.

Am Mikrofon der schmächtige und nerdhafte Songwriter Toledo, dem der Schmerz und die Verletzlichkeit der jungen Jahre in jedem Ton seiner Stimme anzuhören ist. Sturm und Drang gepaart mit klassischen Folk-Rock-Melodien, ein intensives und bahnbrechendes Konzert mit . Was war nochmal Grunge? Car Seat Headrest spielten alles an die Wand und gingen als große Gewinner des diesjährigen Weekenders hervor. Die tiefste Verbeugung und der Kniefall des Kritikers sind ihnen gewiss. Die dabei waren, werden sich noch lange an diesen Auftritt erinnern.

Hudson Taylor und The Breeders

Völlig berauscht und geflasht zog es den Chronisten für einen kurzen Zwischenstopp wieder zurück in den Baltic-Saal, wo Hudson Taylor aus Irland herzensguten und herzerfrischenden Folk-Pop offerierten. Hier war alles trunken vor Harmoniesüchtigkeit und der Schulterschluss mit dem Publikum, das schnell als Chor für einen Refrain okkupiert wurde, funktionierte hervorragend. Reichlich uninspiriert fiel indes der Auftritt von The Breeders aus. Bekannte Indie-Rock-Hymnen wie „Cannonball“, „Divine Hammer“ oder „Drivin‘ On 9“ reichten nicht aus, um Begeisterung zu entfachen. Trotz kurzer Song, ein Konzert mit Längen und Belanglosigkeiten. Schade, vielleicht hätten Kim Deal & Co. auf ein Comeback nach zehn Jahren Plattenpause verzichten sollen. Am Ende spielte das Quartett dann im nur noch zu einem Drittel gefüllten Zelt.

Die coole Anna Calvi

Voller und wesentlich aufregender ging es im Baltic-Saal weiter, wo Anna Calvi das Publikum erst einmal einige paar Minuten im Dunkeln schmoren ließ, bevor sie mit einem lässigen Gitarrensolo das Konzert begann. Calvi zeigte sich als erhabene Hohepriesterin und als Femme fatal des Gitarrenspiels, das sie lyrisch, artifiziell und manchmal auch schlicht bodenständig rockend interpretierte. Sie ist die verkörperte Coolness und eine aufregende Musikerin, keine Frage (und kann ganz schön grimmig dreinschauen, wenn sie möchte).

Motorpsycho und Tusq

Währenddessen bauten die Roadies der norwegischen Band Motorpsycho einige Boxentürme auf die Zelt-Bühne. Gewaltig der Blues-Psychedelic-Hard-Rock-Sound des Quartetts, das aber auch leisesten Ton mit Herzblut zelebriert. Der 15-Minuten-Song zum Einstieg verriet schon alles über Motorpsycho, die immer wieder an Deep Purple der frühen 70er erinnerten. Auf der kleinen Bühne des Witthüs-Raumes stand nachfolgend die Hamburg-Berliner Formation Tusq auf dem Programm. Die Band um den charismatischen Sänger, Keyboarder und Akkordeonisten Ulli Breitbach hat nach fünf Jahren Pause unlängst die neue Platte The Great Acceleration veröffentlicht und mit dem Albumopener „Set Fire“ legte das Quartett gleich richtig los. Schnittiger Indie- und Alternative-Power-Rock mit dem Händchen für hymnische Melodien und einem entfesselten Timo Sauer an der Gitarre. Der Tusq-Auftritt sorgte für den nächsten Euphorieschub.

Element Of Crime als Headliner zu späten Stunde

Wie gewohnt viel Melancholie und „Romantik“ gab es zum Abschluss des Festivals von Element Of Crime. Für den ursprünglich geplanten Ryan Adams sprang die Berliner Gruppe um Sänger, Gitarrist, Trompeter und Schriftsteller Sven Regener relativ kurzfristig als Headliner ein und präsentierte den Fans in den ersten 50 Minuten ihres Gigs acht Songs vom neuen, überaus guten Album Schafe, Monster und Mäuse mit dem meisterlichen „Bevor ich dich traf“ und dem direkt danach platzierten „Gewitter“ als absolute Highlights des späten Abends. Das ist natürlich auch die hohe Kunst der Setlistzusammenstellung, die Element Of Crime hier vollführten.

Ähnlich stark, „Mehr als sie erlaubt“ auf „Schwere See“ folgen zu lassen. Besonders eindrucksvoll geriet „Warte auf mich“, die Trompete eine einzige wunderprächtige Klage, das Akkordeon trunken-traurig, eine unfassbar intensive Live-Version. Nach dem von so vielen heißgeliebtem „Delmenhorst“ noch vier Zugaben mit dem wohl immer noch besten Element-Song „Weißes Papier“ zu Beginn und „Dieselben Sterne“ am Ende. Wahr und gut und schön. Wie auch die zehnte Ausgabe des Rolling Stone Weekenders.

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