Holger Siemann: Das Weiszheithaus – Ein Jahrhundertroman

Ein kluger und detaillierter Epochen- und Familienroman

Das Weiszheithaus von Holger Siemann ist ein Roman, dessen vielfältige Eindrücke man nach Beendigung der Lektüre erst mal sacken lassen muss. Gleichzeitig kann man seine eigene Begeisterung ob dieses 700-seitigen Opus Magnum, ähnlich wie beim Lesen selbst, noch ein paar Tage in vollen Zügen genießen. Der 1962 in Leipzig geborene und in Berlin und der Uckermark lebende Schriftsteller, der auch als Schauspieler, Offizier, Sozialwissenschaftler, Familienhelfer und Autor zahlreicher Hörspiele, Features und Libretti in Erscheinung getreten ist, entwirft in seinem, nach Arbeit und Streben sowie Karlas Versuch, die Welt zu retten, dritten Roman ein prächtiges Panoptikum des letzten Jahrhunderts.

Sven Gabbert erbt das sogenannte Weiszheithaus im Jahre 2011. Das Mehrfamilienhaus steht in der Kopenhagener Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, unweit der ehemaligen Mauer. An dem 1900 erbauten, dreißig Wohnungen umfassenden Haus sind die letzten hundert Jahre nicht spurlos vorübergegangen, Modernisierungsarbeiten sind unumgänglich. Auf dem Dachgeschoß findet Gabbert ein umfangreiches Archiv mit Tagebüchern, Werken, Manuskripten und Briefen seines in der DDR als Schriftsteller tätigen Großvaters Kurt Weiszheit. Sven Gabbert, 1972 geboren, floh im Sommer 1989 aus der DDR, führte jahrelang ein abenteuerliches Nachwendeleben, gespickt mit Höhen und Tiefen. Der Kontakt zu seiner Familie war weniger als rudimentär und während des Notartermins wird er über ein wichtiges Detail seiner Herkunft in Kenntnis gesetzt.

Das und der Fund auch dem Dachboden, zu dem Aufzeichnungen weiterer Familienmitglieder und Hausbewohner zählen, machen Gabbert neugierig. Aufgrund eines unglücklich verlaufenden Unfalls an einen Rollstuhl gefesselt, hat Gabbert viel Zeit, sich mit seiner Familienchronik zu beschäftigen. Wie bei einem Puzzle fügt er Einzelteile zueinander, findet Gemeinsamkeiten und Abweichungen in den fiktionalen Werken Kurt Weiszheits und den Tagebucheinträgen anderer ehemals im Weiszheithaus lebender Personen. Gabbert erzählt die Geschichte des Weiszheithauses und seiner deutsch-jüdischen Familie chronologisch mit diversen Zeitsprüngen, wobei die Lebennsentwürfe des Hauserbauers Namensgebers Gustav Weiszheit, dessen Tochter (und Gabberts Urgroßmutter) Elise sowie natürlich des Schriftstellers Kurt Weiszheit im Mittelpunkt des Romans stehen.

Im Prinzip kommentiert Gabbert die von ihm zusammengesetzten Funde seiner Familienhistorie, die aus einer Aneinanderreihung von Zitaten besteht. Sven Gabbert, dessen eigene Geschichte sporadisch eingeflochten wird,  ist der Leiter dieses dokumentarischen Mammutwerkes, das durch seine Polyphonie der Stimmen und Impressionen besticht. Um die Authentizität seiner Story zu erhöhen, baut Holger Siemann Fotos, Urkunden, Cover von Kurt Weiszheits veröffentlichten Büchern und am Ende noch einen Familienstammbaum in den Roman ein. In den fast 40 Seiten langen Anmerkungen kann der Leser verfolgen, welche Quellen Gabbert an welchen Stellen benutzt, um die Weiszheit-Chronik peu à peu zu vervollständigen.

Man gewöhnt sich leicht und schnell an diesen berichtenden Stil mit der überbordenden Zitatenfülle und wird Zeuge eines bis ins letzte Detail klug konzipierten, einfallsreichen Romans, der das Leben der zahlreichen Bewohner des Weiszheithauses erfahr- und fühlbar werden lässt. Das Weiszheithaus ist ein epochaler Familien-, Gesellschafts-, Berlin-, Deutschland- und Geschichtsroman, der Fiktion und Realität einzigartig miteinander verwebt. Eine mehr als zu würdigende Sisyphos-Arbeit, die Holger Siemann auf sich genommen, zu Ende gebracht und genial umgesetzt hat. Ein Jahrhundertroman eben.

Holger Siemann: „Das Weiszheithaus“, Dörlemann Verlag, Hardcover, 736 Seiten, 978-3-03820-045-1, 28 € (Beitragsbild: Holger Siemann by Barbara Dietl).  

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