Paul Auster: 4 3 2 1 – Roman

Ein opulenter und brillanter neuer Paul Auster-Roman

Irgendwann verlor sich seine Spur. Die New York-Trilogie, ein genialer literarischer Coup, der die eigene Welt ins Wanken geraten ließ, Leviathan noch phänomenaler, mit der Musik des Zufalls jedoch erfolgte ein Bruch, der Zufälle waren zu viele Türen und Tore geöffnet, Paul Auster zu lesen langweilte plötzlich. Mond über Manhattan dann noch okay, riss das Ruder aber nicht mehr herum. Zwanzig Jahre herrschte Funkstille, und jetzt das. Wahrscheinlich war es eine gute Entscheidung, so lange auf weitere Paul Auster-Romane zu verzichten und auf das ultimative Werk des nunmehr 70-jährigen amerikanischen Schriftstellers zu warten. Denn das hat Paul Auster mit 4 3 2 1 definitiv geschrieben.

Man kann nicht anders, als in die bereits zahlreichen Lobpreisungen von Feuilleton und auf diversen Blogs einzustimmen und diesem sensationellen Roman zu huldigen. Auch nach knapp 1300 Seiten keine Lesemüdigkeit erkennbar, im Gegenteil, das Ende durch bewusst langsames Lesen möglich weit nach hinten verschoben, um die Story von Archie Ferguson lange genug genießen zu können. Beziehungsweise die vier Storys von Archie Ferguson, die Paul Auster parallel erzählt, vier verschiedene, mögliche Lebensentwürfe, die den jungen Archie aufgrund von Schicksalsschlägen sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln lassen. Hiermit endet aber bereits das Experimentelle an diesem Roman, denn Paul Auster erzählt seinen Plot stringent, klassisch-konventionell und chronologisch.

Trotzdem muss man zu Beginn höllisch aufpassen, um die einzelnen Archie Fergusons nicht zu verwechseln, dem Lesefluss indes tut dies keinen Abbruch. So sehr die vier aufgezeigten Lebenswege des heranwachsenden Archie Ferguson voneinander abweichen, so sehr gleichen sie sich wiederum. Wie Paul Auster selbst, wird Archie Ferguson 1947 in Newark, New Jersey, geboren und entwickelt sich zu einem sportbegeisterten und wissbegierigen Menschen. Aus dem Titel 4 3 2 1 ist es bereits abzuleiten, Auster reduziert die Anzahl seiner Archies peu à peu, einer von ihnen verlässt uns frühzeitig im Alter von 13 Jahren, die anderen geraten zwangsläufig in den Strudel der gesellschaftlichen Ereignisse der USA in den 50er- und 60er-Jahren.

Und so erleben wir Archie als angehenden Journalisten und Übersetzer französischer Lyrik, der an der Columbia studiert und eine langjährige Beziehung mit Amy Schneiderman, der Enkelin eines Fotografen, bei dem seine Mutter einst jenes künstlerische Handwerk lernte, führt, den „Mister Missgeschick“, der bei einem Autounfall zwei Finger verliert und für dreizehn Stunden in einem Fahrstuhl stecken bleibt. Wir lernen den selbstzweifelnden Archie kennen, den Literatur- und Filmnarr, der in Paris sein erstes Buch zu Ende schreibt.  Und da ist schließlich der mit einem Stipendium in Princeton studierende, sich zu seiner Stiefschwester Amy Schneiderman hingezogen fühlende, zeugungsunfähige, ein Verhältnis mit einer 13 Jahre älteren Ex-Lehrerin und ein Leben als Bohème in Manhattan führende Archie Ferguson.

Paul Auster lässt alle wichtigen historischen Begebenheiten der USA jener Zeit einfließen, von dem Marsch auf Washington und der Friedensbewegung, über die Attentat auf J.F Kennedy und Martin Luther King, hin zum Vietnamkrieg, den Rassen- und Studentenunruhen, dem Sommer der Liebe und Woodstock. Neben politisch-gesellschaftlichen Themen sind die Kunst (Literatur, Film, Musik), der Sport (Baseball, Basketball) und die Stadt New York wichtige inhaltliche Parameter dieses opulenten Entwicklungsromans. An manchen Stellen greift Auster gottgleich in den erzählerischen Ablauf ein und nimmt schicksalhafte Wendungen und Geschehnisse vorweg, brilliert aber mit seiner sprachlichen Eleganz und Sätzen von teils einer Seite Länge, die nie der Autorenselbstverliebtheit, sondern immer dem erzählten Sujet dienen.

Zeitlich umspannt der Roman knapp über zwei Dekaden, literarisch jedoch die ganze Welt. Dieser Roman ist Leben, Liebe, Trauer, Schmerz, Wut und Weisheit. Er ist ein Gewinn für Geist, Seele und Herz. Man kann 4 3 2 1 nur wünschen, er möge für viele Leser eine ähnliche Bedeutung finden wie Dostojewskijs Schuld und Sühne für Archie Ferguson. Der beste und wichtigste zeitgenössische amerikanische Roman seit Klang der Zeit von Richard Powers. Spätestens mit 4 3 2 1 ist Paul Auster ein Fall für den Literaturnobelpreis.

Paul Auster: „4 3 2 1“, Rowohlt, übersetzt von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl, Hardcover, 1264 Seiten, 978-3-498-00097-4, 29,95 €.

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