Elena Ferrante: Meine geniale Freundin – Roman

Nicht nur eine geniale Freundin, auch ein genialer Roman

von Gérard Otremba

Am Ende von Meine geniale Freundin, dem ersten Band von Elena Ferrantes Tetralogie um die Freundschaft von Raffaella Cerullo und Elena Greco sind beide Protagonistinnen 16 Jahre jung und Raffaella feiert ihre Hochzeit. Eine inhaltliche Vorwegnahme, die von Elena Ferrante im, dem Prolog vorangestellten Personenverzeichnis angedeutet wird. Wir befinden uns zu Beginn der 60er Jahre im italienischen Neapel. Elena Greco, von allen Lenù gerufen, erzählt die Geschichte aus der über sechzig Jahre später liegenden Erinnerung in der Ich-Perspektive. Sie ist die begabte Tochter eines Pförtners und einer Hausfrau, die im Rione, einem ärmlichen Viertel Neapels in den End-40ern und 50er-Jahren aufwächst. Mit Raffaella, von allen Lina, von Lenù Lila genannt, trifft sie auf ein gleichaltriges, ihr immer einen Schritt vorauseilendes Mädchen. Von Statur kleiner und dürrer als Elena, gibt Lila das enfant terrible, das unangepasste, streunende Pippi Langstrumpf-Pendant Italiens, das sich furchtlos auch mit Jungs anlegt und Lenù schulisch als Einzige überlegen ist, ohne jedoch ihre Talente in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen.

Aus zunächst vorsichtiger Annäherung, entwickelt sich in der Grundschulzeit eine innige Freundschaft zwischen den beiden höchst unterschiedlichen Mädchen. Diese Freundschaft verändert sich nach der Grundschule, denn während Lenù die Mittelschule und anschließend ein Gymnasium besucht und dort trotz persönlicher Krisen zur Klassenbesten aufsteigt, bleibt Lila in der Schuhwerkstatt und im elterlichen Haushalt stecken. Zunächst darauf bedacht, sich intellektuell weiterzubilden, stellt Lila mit der Zeit das Lernen ein und wird mit der Veränderung ihres pubertierenden Körpers zu einer natürlichen Diva mit Schauspielerinnencharme, die den Lebensmittelhändler Stefano ehelichen möchte. Nicht aus Liebe, aber mindestens, um den Werbungsversuchen des Angeber-Jünglings Marcello ein Ende zu bereiten und definitiv, um finanziellen Wohlstand zu erreichen.

Elena Ferrante hat mit Meine geniale Freundin einen echten literarischen Pageturner geschrieben. Ihre Sprache hat einen süchtig machenden Flow, die Charakterzeichnungen aller handelnden Personen sind unmittelbar und glaubwürdig. Ferrante lässt das neapolitanische Viertel Rione zu einem einzigartigen und vielschichtigen Kosmos erblühen. Die 50er-Jahre in Süditalien, wahrlich kein Zuckerschlecken für heranwachsende Frauen. Ihre Welt wird von machohaften Männern dominiert, deren Gewaltbereitschaft ständig eskaliert. Zwietracht, offene Feindschaften Nachbarn gegenüber, die persönlichen Wunden des 2.Weltkrieges sind noch lange nicht verheilt.

Zwischen ehemaligen Kollaborateuren, Kommunisten, Mafiosi und deren Sprößlingen müssen sich Lila und Lenù einen Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Trotz der gegensätzlich eingeschlagenen Wege, bleibt die Freundschaft der Kern ihres Lebens. Meine geniale Freundin, der erste Teil der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante, ist ein fabelhafter Freundschafts- und Epochenroman. Ein sympathischer, berührender, ganz und gar liebenswerter Roman, für den der Begriff der schönen Literatur („Belletristik“) erfunden worden ist. Die Fortsetzung mit dem Titel Die Geschichte eines neuen Namens folgt Anfang Januar.

Elena Ferrante: „Mein geniale Freundin“, Suhrkamp Verlag, aus dem Italienischen von Karin Krieger, Hardcover, 978-3-518-42553-4, 22 €.

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