Ian McEwan: Nussschale – Roman

Auf Shakespeares Spuren

von Gérard Otremba

Es ist sicherlich vorstellbar, dass der noch ungeborene Erzähler von Ian McEwans neuem Roman Nussschale einigen Lesern den letzten Nerv raubt. Aber eben nur einigen. Natürlich ist der zwei Wochen vor seiner Geburt stehende Fötus ein neunmalkluger Naseweis, aber er entstammt der Feder des brillanten englischen Schriftstellers Ian McEwan, der mit „Abbitte“, „Saturday“, „Solar“ und zuletzt „Kindeswohl“ für einige der wichtigsten und besten englischsprachigen Romane der letzten zwanzig Jahre verantwortlich zeichnet. McEwans stilistische Virtuosität setzt sich auch in seinem neuen, auf das Shakespeare-Drama Hamlet beziehenden Roman Nussschale durch. Noch nicht auf der Welt, stellt sich der knapp neun Monate junge Erzähler bereits auf den ersten Seiten die große Sein- oder Nichtsein-Frage und weiht uns in einen bösartigen Komplott ein.

Sein Vater John, ein verschuldeter, aber eine leicht heruntergekommenen, doch teure Villa in Londoner Bestlage besitzender Dichter und Verleger, soll sterben. Die Intriganten sind des Erzählers Mutter Trudy und ihr Liebhaber Claude, Johns zum Trivialen neigender Bruder. Für den zwar nassforschen, aber wissbegierigen Kleinen in Trudys Bauch ein rechter Skandal, kann er doch als „Mann von Welt“ die scheinbar sehr auf Triebhaftigkeit reduzierte Beziehung seiner Mutter zu seinem naiv-dümmlichen Bau-Unternehmer-Onkel nicht nachvollziehen. Sein Wissen und seine Klugheit hat sich der Jungerzähler mittels exzellenter Hörfähigkeiten angeeignet. Er lauscht gebannt allen Radio- und Fernsehsendungen, genießt Mutters Vorliebe für Podcasts und saugt Informationen des vergangenen und gegenwärtigen politisch-kulturellen Lebens auf.

Ian McEwan lässt es sich nicht nehmen, dem Ungeborenen plakative und doch jederzeit realistische Gesellschaftsanalysen durchführen zu lassen. Und auf dem Gebiet der Weinkennerschaft hilft dann nicht nur der Hörbuch-Ratgeber „Werde Weinkenner in fünfzehn Folgen“, sondern auch die praktische Ausführung seiner Mutter, die trotz Schwangerschaft einem guten Tropfen nicht abgeneigt ist. Es ist ihr nicht zu verdenken, die Ränkepläne gegen ihren Ehemann, der sie immer noch liebt, zurückzugewinnen versucht, in der Villa leben lässt und selbst in einem Appartement in Shoreditch verkümmert, die Tat selbst und ihre Folgen schwächen die Nerven der Gebärenden. Trudys Nachwuchs mischt sich im wahrsten Sinne des Wortes ein und beschleunigt seine Geburt, um Mutter und Lover bei den Fluchtvorbereitungen zu stören.

In seinem Roman Nussschale changiert Ian McEwan gekonnt zwischen Krimi-Farce und Gesellschaftssatire. In eloquenter, humorvoller, philosophischer und gar spöttischer Weise legt der 1948 in Aldershot geborene McEwan seine selbstironische Abneigung gegen die Welt in den Gedankenkosmos seiner pränatalen Erzählstimme dieses Romans. Mögen die oben genannten Werke McEwans die wichtigeren in seinem Oeuvre sein, bleibt das literarische Niveau des Booker-Preis-Trägers auch bei Nussschale ein extrem hohes.

Ian McEwan: „Nussschale“, Diogenes, aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, Hardcover, 978-3-25706982-2, 22 €.

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