Thomas Melle: Die Welt im Rücken

Der selbstentblößende Bericht eines manisch-depressiven Schriftstellers

von Gérard Otremba

Thomas Melle ist kein Unbekannter in Bezug auf Listenplätze beim Deutschen Buchpreis. Sein Debütroman Sickster stand auf der Longlist 2011, der Nachfolger 3000 Euro schaffte es 2014 dann sogar auf die Shortlist. Dort befindet sich der 1975 in Bonn geborene und in Berlin lebende Schriftsteller mit seinem neuen Werk Die Welt im Rücken ebenfalls. Im Gegensatz zu seinen vorherigen Büchern handelt es sich bei Die Welt im Rücken keinesfalls um einen Roman, im Prinzip die Grundvoraussetzung, um in die Longlist zum Deutschen Buchpreis aufgenommen zu werden, soll doch hierbei der deutschsprachige „Roman des Jahres“ gekürt werden.

Gewänne Thomas Melle mit Die Welt im Rücken den Deutschen Buchpreis 2016, wäre eine gewisse dramatische Chronologie und Kontinuität feststellbar, zunächst Longlist, dann Shortlist und bei der dritten Nominierung dann der Sieg. Es verwunderte nicht, käme es zum finalen Gewinn. Thomas Melles manisch-depressive Erkrankung, in der Zwischenzeit auch bipolare Störung genannt, floss bereits in Sickster und 3000 Euro ein, für Die Welt im Rücken lässt er den fiktionalen, literarischen Überbau weg und konzentriert sich ganz und gar auf einen autobiographischen Text.

Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik. Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion, jedenfalls um den Versuch einer solchen. Es geht um mein Leben, um meine Krankheit in Reinform. Da darf der ursprüngliche Aufbruch nicht fehlen. Nichts soll dabei verklausuliert, überhöht, verfremdet sein. Alles soll offen und sichtbar daliegen, so weit das eben möglich ist.“

 Das ist sehr gut möglich, schließlich ist Thomas Melle ein formidabler Autor, der mit Die Welt im Rücken einen ganz starken Text geschrieben hat. Ein intimer, selbstentblößender Text, der Melles Paranoia, seinen Wahn und seine Depression detailliert beschreibt. Das reicht von teils wirren Aufzeichnungen aus der geschlossenen Psychiatrie aus dem Jahre 1999, über eine ausnehmend witzige Passage von Melles Teilnahme am Ingeborg Bachmann-Preis im Klagenfurt, bis hin zum nicht minder staunenswerten Kapitel, als ihm ausgerechnet der Song „Fernando“ von ABBA das Leben rettet. Doch meistens ist einem nicht wirklich zum Lachen zumute beim Lesen der 350-seitigen Skizze seines Krankheitsbildes.

Diese weist zwar immer wieder analytische, kultur-gesellschaftsrelevante Beobachtungen auf, bleibt aber eine zutiefst persönliche Abhandlung, die an Intensität nichts zu wünschen übrig lässt. Thomas Melle wählt den Weg der größtmöglichen Nabelschau, berichtet getrieben von seinen auf sich bezogenen  Verschwörungstheorien, von wiederholten Einweisungen in, und Fluchten aus der Psychiatrie, von positiv gemeinten Medikamenten, deren Nebenwirkungen fatale Folgen auf sein Leben haben, von zerbrochenen Beziehungen, von einer exzessiven Krankheit, die ihn bis zur Gewalt gegen seinen besten Freund treibt.  Nach drei sehr langen manisch-depressiven Schüben findet sich Thomas Melle schließlich hoch verschuldet in einem Heim wieder. Einer von vielen Tiefpunkten in seinem Leben.

Die Welt im Rücken ist ein schonungsloses, radikales, exzentrisches, schmerzhaftes Buch, in dem Thomas Melle seine bipolare Störung nicht verklärt, sondern verständlich macht. Ein literarischer Balanceakt, wie Melles eigenes Leben. So kräfteraubend der Kampf gegen die Krankheit für Melle ist, so aufreibend kann auch die Lektüre für den Leser werden. Man muss sich auf diesen, zugegebenermaßen sehr gelungenen, stilistischen Kampf ohne fiktiven doppelten Boden einlassen und wird belohnt. Aber es ist auch ein voyeuristischer Text, der so gut zum Social Media-Internetzeitalter passt, in dem das Private des Texters so häufig wichtiger erscheint als der Text selbst. Das Schreiben sei für ihn längst sein „einziger Zufluchtsort“ geworden, so Melle in seinem Buch. Die Welt im Rücken ein Befreiungsschlag, um als Schriftsteller zukünftig doch noch den anti-autobiographischen Bildungsroman zu schreiben, der hier noch ein „verhinderter“ ist. Und mit dem Thomas Melle dann den Deutschen Buchpreis gewinnt. Oder aber bereits mit Die Welt im Rücken. Am 17.10.2016, um 19 Uhr sind wir schlauer.

Thomas Melle: „Die Welt im Rücken“, Rowohlt Berlin, Hardcover, 352 Seiten, 978-3-87134-170-0, 19,95 €.

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Kommentare

  • <cite class="fn">Claudia</cite>

    Also dein Tipp für den Buchpreis? Nur mal so aus reiner Neugier gefragt… Für mich schon – neben Bodo Kirchhoff. Mal schauen, wie es ausgeht, es ist ja immer eine große Überraschung.
    Viele Grüße, Claudia

    • <cite class="fn">Gérard Otremba</cite>

      Mein Wunschtitel wäre „Skizze eines Sommers“ von André Kubiczek. Thomas Melle wird jetzt überall favorisiert, Grund genung für mich, einen Außenseiter zu bevorzugen. Aber Winkler hat nun den aspekte-Literaturpreis gewonnen, also definitiv mal kein Außenseite mehrr. Kirchhoff habe ich absolut auf der Rechnung. Schöne Grüße, Gérard

  • <cite class="fn">Eva Jancak</cite>

    Wahrscheinlich wird er gewinnen, denke ich, wenn ich mich so in der Bloggerszene umhöre, mir hat es auch sehr gefallen, es ist aber, glaube ich, ein Memoir oder ein Personal Essay und kein Roman, aber eine sehr fundierte Darstellung der bipolaren Depression, wissenschaftlich auf dem letzten Stand und es einem persönlich dabei geht.
    Bis jetzt wäre Sibylle Lewitscharoff https://literaturgefluester.wordpress.com/2016/09/23/das-pfingstwunder/meine Favoritin, weil mehr ein Roman, aber wenn das Thema bipolare Depression literarisch aufbereitet ein bißchen Öffentlichkeit bekommt, ist das sicher auch nicht schlechtx

    • <cite class="fn">Gérard Otremba</cite>

      Lewitscharoff habe ich nicht gelesen, zu Eva Schmidt schreibe ich noch was und anschließend noch Kaiser-Mühlecker, dann habe ich die Shortlist durch. Die Aussichten Melles sind sehr gut, zweifellos. Auf der Shortlist vermisse ich Falkner und Platzgumer, deren Romane ich wirklich ganz ausgezeichnet finde. Schöne Grüße, Gérard

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