John Irving: Straße der Wunder – Roman

Kein Wunderwerk, aber für Fans absolut genießbar

von Gérard Otremba

Geht man von der Prämisse aus, dass „Owen Meany“, „Garp und wie er die Welt sah“, „Hotel New Hampshire“, „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ sowie „Zirkuskind“ zu den fünf besten und bedeutendsten Romanen John Irvings zählen (und damit liegt man in der Rezeption der Irving-Romane sicherlich nicht ganz falsch), so reiht sich sein neues Werk Straße der Wunder im anschließenden vorderen Mittelfeld ein. Man kann dem nunmehr 74-jährigen in New Hampshire geborenen Schriftsteller prinzipiell gar keinen Vorwurf machen, denn das Setting und die Protagonisten sind typisch Irving.

Die Geschwister Juan Diego und Lupe wachsen als sogenannte „Müllkippenkinder“ („Sie hatten die Aufgabe, Glas, Aluminium und Kupfer von übrigen Müll zu trennen“) in der mexikanischen Stadt Oaxaca auf. Während Juan Diego sich selbst das Lesen beibringt, zum Vielleser mutiert und von Jesuitenpater Pepe im Jahre 1970 als 14-Jähriger in die zeitweilige Bildungsobhut genommen wird, kann seine ein Jahr jüngere Schwester Lupe Gedanken lesen, versteht es aber nicht, sich verständlich zu artikulieren und wird häufig als zurückgeblieben betrachtet. Doch schlummert in Lupe ein für ihr Alter geradezu scharfzüngiger, mit fast zynischem Humor ausgestatteter Geist, der für zahlreiche skurrile Situationen und beim Leser für diverse Lachanfälle sorgt. Allein Juan Diego vermag ihr Kauderwelsch zu verstehen und fungiert als nicht immer einwandfreier Übersetzer.

In Straße der Wunder wimmelt es von noch mehr typischen Irving-Figuren. Zum Beispiel Esperanza, die Mutter von Lupe du Juan Diego, eine Prostituierte, die von Jesuiten-Patres aus Barmherzigkeit als Putzfrau angestellt worden ist. Oder der aus Iowa stammende Priesteranwärter Eduard Bonshaw, der sich in die transsexuelle Prostituierte Flor verliebt (die beide spielen für Juan Diego einen noch wichtigen Elternersatz). Vierzig Jahre später sind Lupe und ihre Mutter längst tot (beide starben, wie so häufig bei John Irving, auf eher unkonventionelle, gar groteske Weise) und der seit einem in der Jugendzeit erlittenen Unfall hinkende Juan Diego ein weltberühmter Schriftsteller. Aufgrund von Medikamenteneinnahme verfällt Juan Diego immer wieder in den Schlaf und träumt von seiner Vergangenheit. In diesen ineinanderfließenden Retrospektiven erzählt Irving Juan Diegos Geschichte, die mitunter in variantenreichen Wiederholungen mündet.

Und dies ist die einzige Schwäche dieses Romans, denn an Ideen und aberwitzigen Konstellationen mangelt es hier nicht. Allein, Straße der Wunder ist 100-200 Seiten zu lang geraten (normalerweise stellt die Seitenanzahl bei Irving-Romanen kein Problem dar) und hat dementsprechend einige zähe Passagen. Daß sich ein 1942 geborener Autor in seinem neuen Werk dem Thema Alter stellt, mag kaum verwundern, und Irvings Seitenhiebe gegen die katholische Kirche sind eine Offenbarung. In die Top-Five-Liste der John Irving-Romane schafft es Straße der Wunder zwar nicht, aber eingefleischte Fans sollten ihren Spaß finden.

John Irving: „Straße der Wunder“, Diogenes, aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans M. Herzog, Hardcover, 784 Seiten, 978-3-257-06966-2, 26 €.

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