Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut – Roman

Ein kurzer, aber eindringlicher und aufwühlender Roman

von Gérard Otremba

Ein kleines Mädchen wird von ihrem „Onkel“ in einer nicht näher benannten Großstadt zum Betteln geschickt. Eines Tages ist der Mann verschwunden und das Mädchen aus sich allein gestellt. Es lebt fortan auf der Straße, wird aufgegriffen und in ein Heim gesteckt. Dort wird die sechsjährige Yiza, wie sie sich nennt, zum Liebling aller und lernt die etwas älteren Jungs Arian und Schamhan kennen. Schamhan spricht Arians und Yizas Sprache, Yiza und Arian verstehen einander nicht. Gemeinsam hauen sie aus dem Heim ab, doch das Leben in der winterlichen Großstadt ist hart, die drei wursteln sich mit Diebstählen von Tag zu Tag durch, leben von Hand in den Mund, machen es sich bei einem Hauseinbruch gemütlich und werden erwischt.

Während Schamhan auf der Polizeiwache in eine Schlägerei gerät, können Yiza und Arian fliehen.  Yiza erkrankt jedoch und in einem nicht benutzen Gewächshaus finden die beiden Unterschlupf. Yiza wird von der Besitzerin entdeckt, gepflegt, aber in einer manischen Art auch als Besitz angesehen und gefangen gehalten. Arian möchte seiner kleinen Freundin, mit der er die ersten gemeinsamen Worte lernt, helfen, sie befreien und bei ihr sein und so nimmt das Drama seinen Lauf. Mit einem nüchternen und sehr kargen Sprachstil erzählt Michael Köhlmeier in Das Mädchen mit dem Fingerhut ein modernes Märchen über das Alleinsein, über Sprachbarrieren und das nackte Überleben in der Fremde. Ein Märchen ohne erhobenen moralischen Zeigefinger, in kurzen, fast immer adjektivfreien Sätzen geschrieben.

Köhlmeier bewahrt sich eine größtmögliche emotionale Distanz zu seinen Figuren, lässt jedoch für den Leser mit seiner stilistischen Verknappung wiederum erstaunlicherweise sehr viel Nähe zu. Michael Köhlmeier benötigt für Das Mädchen mit dem Fingerhut keinen Eindruck schindenden, blümeranten Firlefanz, um nachhaltige Wirkung zu erzielen. Und wo andere aus dem Plot eine 400 Seiten langen Abenteuerroman gesponnen hätten, reichen dem 66-jährigen Autor 140 Seiten, die unter die Haut gehen, berühren, aufwühlen und beschäftigen. Ein eindringlicher Roman, von einem der intelligentesten deutschsprachigen Schriftsteller bravourös komponiert.

Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, Hanser Verlag, Hardcover, 144 Seiten, 978-3-44625055-0, 18,90 €.

Kommentare

  • <cite class="fn">Alexa</cite>

    Huhu,
    das klingt nach einem Buch, das mir gefallen könnte. Köhlmeiers „Zwei Herren am Strand“ fand ich schon ganz nett, auch wenn die Distanz zu den Figuren auch in diesem zu spüren war. Danke für den Tipp und beste Grüße aus der Bücherstadt!
    Alexa

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