Andreas Maier: Der Ort – Roman

Ein literarischer Hochgenuss

von Gérard Otremba

Mit seinem im Konjunktiv geschriebenen Debütroman Wäldchestag stach Andreas Maier im Jahre 2000 aus der Neuerscheinungsvielfalt heraus und beschäftigte fortan die Buchwelt. Der 1967 in Bad Nauheim geborene Schriftsteller erhielt sogleich den Aspekte-Literaturpreis, später folgten u.a. der Clemens Brentano-, Wilhelm Raabe-, und Georg Christoph Lichtenberg-Preis. Maiers Bücher spielen bevorzugt im Frankfurter Raum, Der Ort verschlägt den Leser genauso wie die letzten Romane Das Zimmer, Das Haus, Die Straße in die Wetterau. Es gehört zu einem auf mehrere Bände angelegten, autobiographischen Romanzyklus, den Andreas Maier Ortsumgehung nennt. In Der Ort, dem nunmehr also vierten Band jenes Opus Magnum, setzt sich in Hamburg lebende Autor mit dem Städtchen Friedberg auseinander. Gleichsam ist Der Ort auch ein Adoleszenzroman, beschreibt Maier das Friedberg des Jahres 1983. Es sind Erinnerungen an die Zeit als 15-jähriger Heranwachsender, in der Ich-Perspektive aufgezeichnet. Es ist die Zeit der großen persönlichen Veränderungen. Aufkommende Gefühle für Katja Melchior katapultieren den Ich-Erzähler in eine Parallelwelt.

Und es gab die sakrale Sphäre. Beides lernte ich schnell miteinander verweben, und so, wie ich beim gemeinsamen Mittagessen am Sonntag meine Anbindung an die sakrale Katja-Sphäre dadurch zum Ausdruck brachte, daß ich mein völliges Desinteresse an der Situation zeigte und mir gleichsam zu schade für all das war, weil es sozusagen vom Seinswert her zu niedrig und nicht an das Höhere angebunden war, so konnte allein der Gang durch den Bad Nauheimer Park zum Eisstadion schon zu einer Art Meditation und Gebet werden (man nennt das bezeichnenderweise anhimmeln), und ich konnte überall an Katja denken und den Schmerz über mich kommen lassen und das Frösteln und alles Weitere.

Andreas Maier ist ein Sprachästhet, einem Thomas Bernhard, über dessen Prosa er seine Dissertation schrieb, nicht unähnlich. Maier spukt jedoch nicht gar so viel Gift und Galle wie sein österreichischer Kollege, die Abgrenzung der Friedberger, von den Strömungen der70er Jahre geprägten, alternativen Jugend gegen die alteingesessene, konservative CDU-Herrschaft schlägt sich aufs Vortrefflichste in Maiers Schilderung eines CDU-Treffens mit Besuch des damaligen Parteivorsitzenden im Bierzelt Bahn, das für die Dorfjugend mit dem Abfackeln von in Hakenkreuzmuster angelegten, am Boden liegenden CDU-Fähnchen endet. Es ist die Zeit, in der die profane Ebene (Schule, Familie, Alltag) in der Wichtigkeit von der oben beschriebenen „sakralen Sphäre“ abgelöst wird. Die Partys häufen sich, der Bier-Zigaretten- und Kiffkonsum steigt, der 15-Jährige steigert sich in die Rauschhaftigkeit eines jugendlichen Bohèmelebens, verbringt seine Zeit in Cafés und im Jugendzentrum. Andreas Maier versteht es, die gefühlte historische Bedeutung des Ich-Erzählers auf nur 154 Seiten exakt auf den Punkt zu bringen.

Wir schrieben (ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen) zum ersten Mal Geschichte – jene, die sich in uns eingravieren würde und die wir als Zeichen unserer selbst nie mehr von unserer inneren Oberfläche würden entfernen können.“

Und wie sich die Geschichte in die Protagonisten eingraviert, so brennt sich Maiers begnadete und vollkommene Prosa in die Köpfe der Leser ein. Mit seinem Werk Ortsumgehung schreibt Maier selbst Geschichte, sprachverliebt und jederzeit eindrucksvoll. Der Ort von Andreas Maier ist ein literarischer Hochgenuss.

 Andreas Maier: „Der Ort“, Suhrkamp Verlag, Hardcover, 978-3-518-42473-5, 17,95 €.

Kommentar schreiben