Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt – Erzählungen

Meisterhaft komponierte Geschichten über Einsamkeit, Krankheit und Tod

von Gérard Otremba

Selten hat ein noch nicht veröffentlichter Text so viel mediale Aufmerksamkeit erhalten wie „Il Comandante“ von Karen Köhler. Für den diesjährigen Ingeborg Bachmann-Preis eingereicht, vereitelte eine kurzfristige Windpockenerkrankung den Auftritt von Karen Köhler in Klagenfurt, eine Favoritenstellung ist ihr mithin attestiert worden, jedoch müßig im Nachhinein darüber zu spekulieren, ob die 1974 in Hamburg geborene Autorin auch den Sieg davongetragen hätte. In „Il Comandante“, der ersten von neun Geschichten im Erzählband Wir haben Raketen geangelt, versammelt Karen Köhler alle, in den weiteren Erzählungen auf unterschiedlichste Art und Weise interpretierte Themen: Krankheit, Einsamkeit, Verletzungen, Verlassenheit, Tod. „Il Comandante“ gehört trotz der Darmkrebserkrankung der 33-jährigen Protagonistin definitiv zu den optimistischeren und tröstenden Stories in Karen Köhlers Prosadebüt in Buchform.

Allein das unermüdlich heitere Gemüt des 72-jährigen „Popstarparadiesvogelpatientenopas“ macht die Erzählung zu einem erquicklichen Vergnügen, mitten hinein ins Krankenhauselend. Man muss sich auf die Schicksalssituationen der Erzählerinnen einlassen (können). Auf Katharina in „Cowboy und Indianer“, die ausgeraubt und fast verdurstet in der Wüste des Death Valley von einem Indianer gefunden wird, und mit den Dämonen einer früheren Vergewaltigung zu kämpfen hat. Auf die Postkartennachrichten des „Bin Zigaretten holen“ und anschließend aus Italien sich meldenden Polar aus „Polarkreis“. Oder an die Erzählerin von „Name. Tier. Beruf“, die im Alter von 15 Jahren zuerst ihre Schwester durch einen Autounfall und wenige Monate später ihr Baby verlor. Und dann gibt es noch „Krassiwaja“, die in der Titel gebenden Geschichte des Buches den Selbstmord ihres alkoholsüchtigen Freundes verarbeitet.

Erzählungen zwischen Misanthropie und Hoffnung

Nicht zu vergessen Anna, die in „Familienportraits“ mit einem bösartigen Gehirntumor nur noch wenige Monate zu leben hat. Da ist die Theater-Schauspielerin, die in „Starcode Red“ die Trennung ihres Mannes als Mime zur Unterhaltung älterer Menschen auf einem Kreuzfahrtschiff zu begreifen versucht und dort einen Anflug eines misanthropischen Weltekels findet:

„Ich gehe über das Seestern-Deck. Überall essen Leute. Überall trinken Leute. Überall lassen sich Leute mit einer Selbstverständlichkeit von Kellnern bedienen, die mir Angst macht. Leute haben Urlaub, sie fühlen sich überlegen, weil sie sich bei LIDL-Reisen eine Innenkabine für 999,- Euro leisten können, und benehmen sich vulgär, hinterlassen Müll, dreckige Gläser, dreckige Handtücher, zusammengeknüllte Decken, dreckige Tassen, dreckige Teller, sie hinterlassen Kotze und Scheiße und meinen, sie haben das Recht dazu.“   

Nach einer Fehlgeburt und den Tod ihres Mannes zieht sich die als Kind missbrauchte Protagonistin aus „Wild ist scheu“ auf einen Hochsitz im Wald zurück, um beim Nichtstun und Naturbetrachtungen langsam zu verhungern. In der abschließenden Erzählung „Findling“ lernen wir das Leben der nun 70-jährigen Asja kennen, deren gläubige Familie in ihren Kindheitstagen aus Verfolgungsangst in die Einsamkeit der sowjetischen Wälder flüchtet. Natürlich muss Asja den Tod ihrer Eltern und ihrer Brüder, letzterer meint sich noch mit ihr fortpflanzen zu müssen, erleben. Karen Köhler geht in ihrem Erzählband Wir haben Raketen geangelt dorthin, wo es wehtut. Es gibt zweifellos berührende Momente in diesem Buch, doch benötigt der Leser oftmals Nerven aus Stahl, um das völlig deprimierende Los der Hauptfiguren zu verarbeiten. Mit gnadenloser Präzision seziert Köhler das Innenleben ihrer Helden, schnörkellos, realitätsnah, schonungslos und aufwühlend. Mag die stilistische Vielfalt in Karen Köhlers Sprachuniversum nicht jedermanns Sache sein, für Furore wird Wir haben Raketen geangelt in der Buchbranche und dem Feuilleton definitiv sorgen.

 Karen Köhler: „Wir haben Raketen geangelt“, Hanser Verlag, Hardcover, 978-3-446-24602-7, 19,90 €.

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