Dave Eggers: Der Circle

Die fast reale Anti-Utopie

von Gérard Otremba

Dave Eggers hat mit Der Circle das wichtigste Buch des Jahres geschrieben. Der neue Roman des 44-jährigen amerikanischen Schriftstellers ist der Realität näher angesiedelt, als viele vielleicht wahrhaben wollen. Stellen Sie sich vor, Google, Facebook, Twitter, Amazon und Scientology (oder wahlweise die Kirche ihres Vertrauens) schließen sich zu einem weltumspannenden Mega-Konzern zusammen, in Eggers Roman schlicht der Circle genannt. Für einige die Horrorvorstellung schlechthin, für andere das Paradies auf Erden. So auch für die 24-jährige Mae Holland, die voller Enthusiasmus ihren neuen Job in der Customer Experience des Circle antritt.

„Ihre Heimatstadt und der Rest von Kalifornien, der Rest von Amerika kamen ihr vor wie das heillose Chaos in einem Entwicklungsland. Außerhalb der Circle-Mauern gab es bloß Lärm und Kampf, Versagen und Dreck. Hier dagegen war alles vollkommen. Die besten Leute hatten die besten Systeme gemacht, und die besten Systeme hatten Geldmittel eingebracht, unbegrenzte Geldmittel, die das hier möglich machten: den allerbesten Arbeitsplatz. Und es war ganz logisch, dass dem so war, dachte Mae. Wer könnte Utopia bauen, wenn nicht Utopisten?“

Ziel dieser Utopisten und des Unternehmens ist die 100-prozentige Demokratie, die die Erschaffung des vollkommen gläsernen Menschen voraussetzt, natürlich nur zum Wohle der Menschheit und des Individuums, das aber nur in der Gemeinschaft funktionieren kann. Alle Ideen und Erfindungen dienen der größtmöglichen Transparenz des Einzelnen. Mae Holland gerät in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit in einen atemlosen Sog aus Ereignissen, die sie in den Mittelpunkt des Circle und zum bekanntesten Menschen der Welt machen, lebt sie sehr bald schon mit einer winzigen Kamera an ihrem Hals die grenzenlose Offenheit eines Menschen sichtbar vor. Ihre millionenfachen Internet-Follower sind begeistert. Sie verinnerlicht alle auf dem Betriebs-Campus der Firma und in den heiligen Arbeitsstätten prangenden, oder von ihr selbst erfundenen, Slogans: „Wir schaffen alles“, „Community First“, „Alles was passiert, muss bekannt sein“, „Geheimnisse sind Lügen“, „Teilen Ist Heilen“, „Alles Private ist Diebstahl“.

 Dave Eggers auf den Spuren von Orwell und Huxley

Dave Eggers spielt in seinem neuen Buch mit Fiction- und Thriller-Elementen und hat mit Der Circle einen jederzeit fesselnden und spannenden Roman geschrieben. Adäquat zu den großen und bekannten anti-utopischen Klassikern 1984 von George Orwell und Schöne neue Welt von Aldous Huxley verfolgt Eggers letztendlich ebenfalls einen totalitären Ansatz für die scheinbar ideale 100-prozentige Demokratie. Das von den drei Weisen geleitete Circle strebt nach der göttlichen Vollkommenheit und so hehr die Ideale der Kriminalitätsabschaffung, der Ehrlichkeit und des Friedens auch sind, der Aspekt der menschlichen Entscheidungsfreiheit wird von den im Circle arbeitenden Protagonisten manipulativ nivelliert. Es ist eine aufgestülpte Demokratie auf der Basis einer Gehirnwäsche, Persönlichkeitsrechte sowie die Intimsphäre des Einzelnen werden durch den Überwachungsapparat vernichtet. Eggers führt das Horrorszenario konsequent zu Ende, Revoluzzer, die den Lauf der Geschichte, die Vollendung des Circle, stoppen möchten, müssen mit verräterischen Konsequenzen rechnen. Eggers Schilderungen einer nahen Zukunft decken sich bereits in so großen Teilen mit der Realität, dass einem beim Lesen von Der Circle die Angst in sämtliche Glieder fährt. Doch wie vertreiben wir sie wieder, die Geister die wir riefen? Mit euren Smartphones beginnt es, mit der totalen Überwachung hört es auf. Lasst es nicht soweit kommen, ihr digitalen Internetjunkies.

 Dave Eggers: „Der Circle“, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Hardcover, 978.3-462-04675-5, 22,99 €.

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