Margriet de Moor: Mélodie d’amour

Intensive, obsessive Liebesabgründe von Margriet de Moor

von Gérard Otremba

Margriet de Moor lotet Extreme aus. In ihrem neuen Roman Mélodie d’amour ist es wieder einmal die Liebe, die in zahlreichen Facetten schon das Werk der niederländischen Schriftstellerin durchzog (wie z. B. in Der Virtuose, Der Jongleur, Die Verabredung oder Kreutzersonate),  und hier in tiefe Abgründe gerät. Jenseits jeglichen Kitsches und verklärter Romantik taucht de Moor in die Seelenlandschaften ihrer Protagonisten ein. Deren psychische Notlagen verursachen gar merkwürdige und häufig nicht nachvollziehbare Reaktionen, die befremdlich wirken und an Realitätsverlust leiden. Der aus vier Kapiteln mit jeweils wechselnder Perspektive bestehende Roman zeigt die obsessive Seite der Liebe, die an Grenzen stößt und diese durchbricht. In der ersten Geschichte ist es das Verhalten von Arie Doesburg, das verstört. Ihr Ehemann Gustaaf schwängert ausgerechnet die bei ihnen zur Untermiete lebende gute Freundin Marina und obwohl auch Arie die wahre Vaterschaft nicht entgangen sein kann, lebt sie weiter, als wäre nichts geschehen. Der Schock, oder die Verzweiflung, löst sich mit einem hartnäckigen Biss in Gustaafs Nacken sowie mit dessen Rausschmiss eine gefühlte Ewigkeit später.

Das zweite Kapitel erzählt uns Margriet de Moor aus der Sicht von Cindy, die sich heillos in Luuk, dem verheirateten Sohn von Arie und Gustaaf, verliebt. Der Leser wird zwar in den ersten Kapitel-Zeilen auf die „Verrücktheit“ dieser Frau vorbereitet, doch Cindys wahnhaftes Stalker-Gebaren steigert sich in Mordphantasien, nachdem sie von Luuk fallengelassen wird und feststellen muss, dass er außer ihr noch eine andere Geliebte hat. Obwohl sie für Luuk offensichtlich nicht mehr als eine Affäre war, hält Cindy bis zum Schluss an dem „Große-Liebe-Glauben“ fest und entfremdet sich dem Leser mit ihrer Exzentrik zutiefst. Mit wesentlich mehr Mitgefühl nähert man sich beim Lesen Roselynde, der zweiten Geliebte Luuks, die bis zum Tod ihres Bruders, und darüber hinaus, an einer massiv ausgeprägten Geschwisterliebe laboriert. In Mélodie d’amour bricht die Liebe abseitig und dämonenhaft in und über die Charaktere. Auch Luuks Frau Myrte schließlich hat die große Liebe aus früheren Jahren zu einem wesentlich älteren Mann, den sie als Krankenschwesterlehrling ins Leben zurückholt, nicht verwunden. Bei einem Treffen mit dessen Tochter wird die Erinnerung bis in ihre Träume lebendig. Margriet de Moor zeichnet in Mélodie d’amour stilvoll psychische Befindlichkeiten, mit aufregender Intensität, oftmals bis zur Fassungslosigkeit bestürzend, immer eindringlich und faszinierend.

Margriet de Moor: Mélodie d’amour, Hanser Verlag, Hardcover, 978-3-446-24478-8, 21,90 €.  

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