Wilco live in Frankfurt 2011

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Wilco und das brave Frankfurter Publikum

von Gérard Otremba

Bestuhlte Räume für Rock’n’Roll-Konzerte können gelegentlich einen faden Beigeschmack hinterlassen, besonders in der ehrwürdigen Alten Oper in Frankfurt. Im Prinzip beginnt alles ganz normal mit dem Gig von Jonathan Wilson, der für seinen 40-minütigen Auftritt als Support für Wilco den wohlverdienten Applaus erhält. Mit seiner Band spielt er sanften, hippieesk anmutenden, zumeist romantischen, leicht schwebenden Westcoast-Folk-Pop. Da macht man es sich als Gast schon mal gemütlich bequem in seinem Sitz.

Wilco beginnen ruhig und steigern sich zum dramatischen Sturm

Wilco nehmen den musikalischen Faden Wilsons auf und beginnen ihr Konzert mit „One Sunday Morning“, dem letzten Stück ihres neuen Albums „The Whole Love“, mit zwölf Minuten das längste und gleichzeitig auch eines der ruhigsten Songs in der nunmehr 17-jährigen Karriere der Band aus Chicago. Und schon hier bestechen Jeff Tweedy, John Stirratt, Glen Kotche, Mikael Jorgensen, Nels Cline und Patrick Sansone durch ihr präzises und atmosphärisch dichtes Spiel. Mit „Poor Places“ wächst die Dramatik, bevor der Sturm in der Form von „Art Of Almost“ über die Alte Oper hereinbricht. Merkwürdig, dass das von Nels Cline entfachte Gitarren-Inferno allenfalls erstaunte Gesichter hinterlässt. Angeblich zerlegten Rockfreunde früher bei einer anderen Band schon mal die Waldbühne in Berlin. Doch die Alte Oper lässt scheinbar auch die letzten Enthusiasten vor Ehrfurcht erstarren und die wenigen Vortänzer bei „I’ll Might“, einem sofort in Bein und Blut übergehenden Rock’n’Roll-Fetzer, werden von den hinter Ihnen sitzenden Gästen zur Räson gebracht.

Wilco rocken ausgelassen vor einem höflichen Publikum

Die polternde und fiepende Weltuntergangsstimmung von „I‘m Trying To Brake Your Heart“, eine Wilco typische Mischung aus Art- und Progrock, donnert mächtig, das himmlisch-melodiöse „One Wing“ folgt und wird von „At Least That’s What You Said“ abgelöst, zweifellos einer der besten Wilco-Songs ever. Die Gitarrensoli von Nels Cline und Jeff Tweedy reißen normalerweise Wände ein, doch die Erdanziehungskraft der Sitze läßt eine geile Rock’n’Roll-Party nicht zu, die Gäste bleiben sitzen, was Jeff Tweedy zu der Aussage verleitet, das Frankfurter Publikum sei eine „polite audience“. Nun, auch dieser Wink bleibt ungehört, denn nachdem das düstere „Black Moon“ verklingt, kleinere technische Probleme behoben werden und die unverkennbaren Gitarrenklänge von „Impossible Germany“ den Raum erfüllen, tobt der Saal immer noch nicht. Immerhin bekommt Nels Cline für sein furioses Gitarrenspiel von einigen waghalsigen Zuhörern stehende Ovationen. Doch bei der anschließenden, flotten, tanzbaren Rock’n’Roll-Nummer „Born Alone“ ist wieder Schluss mit lustig und alle finden ihre Sitzplätze wieder. Schade, äußerst schade.

Jeff Tweedy lädt zum Tanz ein

Für „Jesus, Etc.“, „Capitol City“, dem live lange nicht mehr vernommenen „Kamera“ und dem vorwärtstreibenden „I’ll Fight“ bleibt sich das Publikum treu und läßt sich immer noch nicht zum Tanzen animieren. Nachdem die Band nun wirklich alles ins Feuer wirft und auch ein völlig orgiastisch endendes „Handshake Drugs“, einige Wilco-Exzentriker befinden sich längst im Rauschzustand (wenn auch sitzend), mit Normalapplaus belohnt wird, wird es Jeff Tweedy nun doch zu bunt. Seiner vehementen und leicht ironischen Aufforderung, sich bewegen zu dürfen, kommt das Publikum tatsächlich nach (bis auf diverse unentwegte Sitzstoiker). Verdammt spät, aber immerhin, schließlich biegen Wilco bereits auf die Zielgerade ihres fast ausverkauften Gigs. Und nun geht es Schlag auf Schlag: Das so grenzenlos nach den Beatles schreiende „Hummingbird“, der geerdete Rock-Pop von „Dawned On Me“, der pure Rock’n’Roll von „Box Full Of Letters“, die Abrechnung mit den „Theologians“ und das ausgelassene „I’m The Man Who Loves You“ beenden das Konzert.

Wilco untermauern ihren Status als beste und interessanteste aktuelle Rock’n’Roll-Band der Welt

Nun ist es doch noch eine große Party geworden, die mit den Zugaben „Via Chicago“, „Whole Love“ und dem unvermeidlichen „A Shot In The Arm“ ihren würdigen Abschluss findet. Wer die Auftritte von Wilco verfolgt, weiß, daß es in der musikalischen Verarbeitung der Songs keine sensationellen Veränderungen gibt, dafür ist diese Band der Perfektion zu nahe. Die Songauswahl jedoch macht die Wilco-Konzerte so interessant und mit „At Least…“, „Kamera“ und „Box Full Of Letters“ stehen an diesem Abend drei länger nicht mehr gehörte Songs auf dem Programm. Und mit jedem ihrer Konzerte untermauern Wilco ihren Status als die beste aktuelle Rock’n’Roll-Band der Welt.

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