Wolfgang Schorlau: Die letzte Flucht

Neuer Fall für Georg Dengler

von Gérard Otremba

Es ist schon sehr tricky von Wolfgang Schorlau, ausgerechnet einen ehemaligen BKA-Ermittler als Privatdetektiv in Stuttgart ermitteln zu lassen. Und diesen auch noch als Sympathikus zu zeichnen. Schließlich diente Georg Dengler jahrelang dem Staat, nicht unbedingt die beste Voraussetzung, um mit einem „linken“ Schriftsteller wie Schorlau zu kooperieren. Scheinbar aber ein gute, um sich mit deutscher Zeitgeschichte auseinanderzusetzen.

Privatdetektiv Georg Dengler ermittelt in „Die letzte Flucht“ in Berlin

Denn das muß Georg Dengler in seinen Fällen. Wie im ersten Fall, „Die blaue Liste“, mit den Spätausläufern der RAF-Zeit, oder wie im fünften Band, „Das München-Komplott“, mit dem Attentat auf das Münchner Oktoberfest von 1980. Es sind immer wieder geschichtliche Unregelmäßigkeiten oder gesellschaftliche Mißstände, die Schorlau seinen Protagonisten aufstöbern läßt. Und nun bekommt Georg Dengler den langen Arm der Pharmaindustrie zu spüren. Sein neuester Fall führt Dengler nach Berlin. Professor Dr. Bernhard Voss, ein unbescholtener und renommierter Arzt und Forscher der Charité, wird der Vergewaltigung und des Mordes an einer neunjährigen verdächtigt und sitzt in Haft. Von der Verteidigung beauftragt, sieht sich Georg Dengler mit einer so erdrückenden Beweislast gegenüber seinen Mandaten konfrontiert, daß auch er die mögliche Täterschaft von Bernhard Voss nicht ausschließen kann.

Wolfgang Schorlau und die Enthüllungen aus dem Gesundheitswesen

Bei einer Überführung aus der U-Haft ins Krankenhaus, flüchtet Voss und die folgenden Kapitel erinnern in schönster Weise an den Film „Auf der Flucht“ mit Harrison Ford und Tommy Lee Jones. Und mittendrin Georg Dengler, der zum Ende hin sogar selbst unter Mordverdacht gerät, abtaucht und seine Unschuld zu beweisen versucht. In einer Parallelhandlung, die am Ende in den Hauptstrang hineinfließt, erklärt ein entführter Pharmamitarbeiter während seines mit dem Entführer geführten Verhörs das deutsche Gesundheitswesen. Und wer sich noch nicht ausreichend mit diesem elementaren Thema beschäftigt hat, dem wird es nach diesen Enthüllungen mal so richtig schlecht. So viel kann man gar nicht Essen, wie man Kotzen möchte, wenn man erst mal weiß, wieviel Schindluder getrieben wird, um ein neues, vermeintlich besseres Medikament gewinnträchtig auf den Markt zu bringen. Der ganze Korruptionsmoloch im Gesundheitswesen wird auch noch brav von der Politik abgesegnet, man kann an dieser Stelle nur wünschen: Bleiben Sie gesund, bzw. fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.

„Stuttgart 21“ und das politische Bewußtsein von Wolfgang Schorlau

Selbstverständlich läßt sich Wolfgang Schorlau nicht nehmen, die Ereignisse rund um „Stuttgart 21“ aufzuarbeiten. Er läßt Denglers Sohn Jakob an der berühmt-berüchtigten Schülerdemo Ende 2010 teilnehmen, Georg Dengler will ihn noch vor der Eskalation rausholen, scheitert, gerät mit seinem Sohn mitten in die Polizeigewalt und hat wieder einen Grund mehr, über den Staat und seine ausführenden Organe nachzudenken. Genau hier liegt Wolfgang Schorlaus große Stärke. Natürlich schreibt er spannende und kurzweilige Kriminalromane, aber sein politisches Bewußtsein läßt ihn eine ums andere Mal Demokratiedefizite und skandalöse gesellschaftliche Zustände entlarven. Eine Art Günter Wallraff des deutschen Kriminalromans. Und davon kann es nicht genug geben. Mit „Die letzte Flucht“ bewegt sich Wolfgang Schorlau erneut am Puls der Zeit und beweist sein untrügliches, kriminalistisches Händchen.

„Die letzte Flucht“ von Wolfgang Schorlau mit der ISBN 978-3-462-04279-5 zum Preis von 8,99 ist am 15.9.2011 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

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