Wilco live 2010 in Offenbach, Hamburg und Berlin

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Großes Kino: Wilco auf Deutschlandtour

von Gérard Otremba

Das musikalische Spektrum der Chicagoer Band Wilco ist schlicht phänomenal. Sicherlich die wandlungsfähigste Rock-Pop-Combo seit den Beatles. Und die genialste aktive zudem. Das beweisen sie seit 1994 auf jedem neuen Album und sie bewiesen es live auf ihrer letzten Deutschland-Tour. Von Fanfaren begleitet, betreten Jeff Tweedy und seine Bandkollegen das Offenbacher Capitol, zweifellos eines der schönsten Konzertsäle Deutschlands, und schon geht es ab. Mit Wilco-The Song eröffnen sie die Show, straighter, kompromißloser Rock`n`Roll. Mit Ashes of American Flags folgt die Offenbarung aus dem 2002 erschienen Meisterwerk Yankee Hotel Foxtrott, der Text zur Asche der amerikanischen Flaggen war bereits vor dem 11.9.2001 fertig, lediglich die Weigerung der Plattenfirma verursachte ein späteres Erscheinungsdatum dieser Ausnahme-CD. Eine sinistere Kapitalismuskritik Tweedys. Bei Company In My Back legt das Tempo wieder zu, bevor I Am Trying To Brake Your Heart in einer progressiven Destruktionsorgie zerlegt und von einer mächtigen Version von Bull Black Nova abgelöst wird. Hier gibt es fett was auf die Ohren und so herzallerliebst You Are My Face auch beginnt, es endet im triumphalen Wutausbruch der beteiligten Musiker, ein Brett von einem Song. A Shot In The Arm strotzt auch nach elf Jahren nur so vor Energie und wird von den Bandmitgliedern nach vorn gepeitscht, eine wahre Pracht, der Applaus erreicht Höchstmaße.

Wilco zwischen Pop und Alternative-Country

Melodiebetonte Euphorie herrscht bei One Wing vor und die Gitarrenarbeit von Nels Cline bei Impossible Germany kann nicht häufig genug gewürdigt werden. Jeder Lauf, jede Note zaubert ein Lächeln auf die Gesichter der Besucher, weil Schönheit in der Popmusik einen Namen hat. Während Poor Places mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wüst auseinander genommen wird, überrascht Spiders (Kidsmoke) auf ganzer Linie. Diente das knapp elfminutenlange Monumentalwerk aus A Ghost Is Born auf den letzten beiden Tourneen noch als furioser und überwältigender Rausschmeißer vor den Zugaben, so gefühlvoll arrangierten die sechs Wilco-Mitglieder das Stück in eine getragene semi-akustische Version, fast zu schön, um wahr zu sein. Wilco zelebrieren alle Facetten ihres Könnens: sehnsuchtsvoller Alternative-Country (It`s Just That Simple, Red-Eyed And Blue), himmelhochjauchzende Popmelodien (You Never Know), zum Artrock tendierende Stücke wie die oben erwähnten Bull Black Nova und Poor Places sowie zum Tanzen einladende Songs wie Walken und I´m The Man Who Love You. Bei den Zugaben geht nur noch die Post ab, Wilco in Partylaune, kurze, schmissige, erdverbundene Rock`n`Roll-Hammer von I Got You (At The End Of The Century) über Outtasite (Outta Mind) bis zu Hoodoo Voodoo aus der Wilco & Billy Bragg vertonen Woody Guthrie-Texte- Kollaboration. Nach exakt zwei Stunden geht das Licht an, ein großer Rockabend ist zu Ende, eine geradezu perfekt aufgebaute Setlist, besser geht`s nicht.

Wilco in Hamburg und Berlin

Fünf Tage später in Hamburg: Laeiszhalle, komplett bestuhlt, gewöhnungsbedürftig zu Musik Wilcos, Gutes jedoch kann man auch im Sitzen genießen. Die Qualität der Show nach wie vor überragend, dazu neun neue Songs im Vergleich zu Offenbach, darunter das Eröffnungsstück Sunken Treasure, das sich langsam anschleichende und eruptiv ausbrechende Via Chicago, das zarte und feinfühlige Either Way, das stark an die Beatles im Jahre 1968 erinnernde Hummingbird, das vorwärtstreibende, mit „aaahh“-Chören flankierte und in den 60ties verhaftete Nothing´severgonnastandinmyway(again). Hier trifft Swinging London auf California Dreaming. California Stars gibt es dankenswerterweise im Zugabenset zu hören. Himmlisch. Der Spagat zwischen ausgeklügeltem Gitarrenlärm und poetischen Songstrukturen gelingt Wilco in Hamburg perfekt. Im Admiralspalast zu Berlin, ebenfalls bestuhlt, bieten Wilco nochmal vier Songs, die weder in Offenbach, noch in Hamburg zu hören waren (u.a. Hell Is Chrome und Theologians). Und jede Stadt bekam, was sie verdiente: Das Konzert des Jahres.

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