Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann – Roman

 

Einer der liebenswertesten Romane des Jahres

Ausgerechnet ein Okapi. Dieses schnuffige, äußerlich sanftmütig aussehende, erst Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Säugetier „mit seinen Zebraunterschenkeln, seinen Tapirhüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Rehaugen und Mausohren“ stellt für die Bewohner eines Dorfes im Westerwald ein bedrohliches Omen dar. Denn immer wenn Selma von einem Okapi träumt, ist es anderntags aus „mit irgendeinem nahen Leben“. Dreimal träumte Selma von einem Okapi, dreimal mit unmittelbarer Todesfolge. Sie träumt auch in der Nacht zum 18. April 1983 von einem Okapi und beichtet ihren Traum Luise, ihrer damals zehnjährigen Enkelin und Erzählerin der Geschichte.

In Windeseile verbreitet sich die Nachricht durchs Dorf, und obwohl die Einwohner bis auf Selmas Schwägerin Elsbeth nicht sonderlich dem Aberglauben zuträglich sind, der Traum jedoch „schuf Tatsachen“. Eine gewisse Unruhe macht sich unter den Dorfbewohnern bemerkbar, begleitet von einem übervorsichtigen Lebenswandel. Manche von ihnen schreiben Briefe mit „verschwiegenen Wahrheiten“, die vor einem möglichen Tod noch in die Welt hinaus muss, man weiß ja nicht, wen es trifft. Nur der alte Bauer Häubel, der so lange gelebt hat, „dass er beinahe durchsichtig war“, ist jetzt von seinen Tod überzeugt.

So einfach ist es jedoch weder in einem Roman noch im wirklichen Leben und so trifft das Schicksal den zehnjährigen Martin, Luises besten Freund, der durch einen Unglücksfall aus dem Leben gerissen wird. An dieser Stelle des Romans Was man von hier aus sehen kann, erlischt auch das sanfte Lächeln, das uns Mariana Leky von Beginn an ins Gesicht gezaubert hat. Allerdings nur vorübergehend. Die Story macht einen Sprung zehn Jahre vorwärts. Die verstockte, aber selbstironische Luise, die die Geschichte sowohl aus der Ich-, als auch aus der auktorialen Perspektive erzählt, hat eine Buchhändlerausbildung begonnen und verliebt sich in den buddhistischen Mönch Frederik, der leider in Japan lebt, ein Umstand, der zunächst nur eine langjährige Brieffreundschaft zur Folge hat.

Mariana Lekys dritter Roman nach Erste Hilfe (2004) und Die Herrenausstatterin (2010) überzeugt mit ihren voller Herzlichkeit gezeichneten Figuren und dem leisen (manchmal überschwappendem) Humor. Da ist Luises Vater, der immer allen den Satz „Ihr müsst mehr Welt hereinlassen“ entgegnet und sich eines Tages auf ständige (Welt-)Reisen begibt. Oder Luises Mutter, die nie wirklich für ihr Kind Zeit hatte, immer zu spät kommt und eine Affäre mit Eiscafé-Besitzer Alberto anfängt. Da ist die immer miesepetrig gelaunte Marlies, die sich bei Luises Chef über deren schlechten Buchempfehlungen beschwert. Und da ist selbstverständlich der wissbegierige, seit Jahr und Tag in Selma verliebte Optiker, der mit ihr Luise die Welt erklärt, aber seine Liebe Selma gegenüber bis ins hohe Alter verschweigt. Und natürlich Selma selbst, ohne deren Okapi-Träume dieser Roman nicht existierte.

Sie und noch einige mehr haben alle ihre unterhaltsamen Marotten und Spleens und obwohl das Leben im Westerwald-Dorf wie ein ewiger, sich wiederholende Kreislauf anmutet, verharren Lekys Protagonisten nicht im Stillstand und sind zu gravierenden Veränderungen ihres Lebens bereit. Mögen manche Szenen etwas rührselig wirken, die berührenden indes überwiegen. Mariana Lekys benutzt einen flüssigen, schnell zugänglichen Schreibstil und wickelt den Leser mit ihrer charmant-intelligenten Prosa im Handumdrehen um den kleinen Finger. Was man von hier aus sehen kann ist wohl einer der liebenswertesten Romane des Jahres. Ein Buch mit Bestseller-Potential, das nun bei Ihrem Buchhändler des Vertrauens für Sie bereit liegt. Gönnen Sie sich etwas Gutes.

Mariana Leky: „Was man von hier aus sehen kann“, Dumont Verlag, Hardcover, 320 Seiten, 978-3-8321-9839-8, 20 €.

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