Walt Whitman: Jack Engles Leben und Abenteuer – Roman

 

Ein feines Bravourstück amerikanischer Literatur

„Wieder mal Onkel Walt“. Dieser, von Schauspieler Robin Williams gesprochene Satz aus dem Film Der Club der toten Dichter meinte selbstverständlich den berühmten amerikanischen Dichter Walt Whitman. Mit seinem Gedichtepos Grashalme (in neueren Übersetzungen auch Grasblätter) schenkte Whitman den Vereinigten Staaten von Amerika im 19. Jahrhundert eine lyrische Identität und beeinflusste zahlreiche nachkommende Kollegen nicht nur jenseits des großen Teichs. Das Prosawerk Whitmans ist weniger bekannt und auch von kleinerem Umfang als das am Ende seines Lebens gut 400 Gedichte umfassende Hauptwerk Grashalme. Es sei denn, es tauchen noch weitere, bisher nicht Walt Whitman zugeordnete, erzählerische Arbeiten wie Jack Engles Leben und Abenteuer auf.

Der Roman erschien 1852 als anonyme Fortsetzungsgeschichte in der New Yorker Tageszeitung Sunday Dispatch. Der Whitman-Forscher Zachary Turpin stieß in dessen Notizbüchern auf im Roman namentlich erwähnte Personen. Darüber hinaus enthält die Story Parallelen zu Whitman Leben. In Jack Engles Leben und Abenteuer erzählt Walt Whitman die Geschichte des jungen Jack Engle, der als Waisenjunge in den New Yorker Straßen lebt und vom Lebensmittelhändler Ephraim Foster und seiner Frau Violet aufgenommen und adoptiert wird. Es sind herzensgute Menschen, die Jack eine Schulbildung und später eine juristische Ausbildung in der Kanzlei Covert ermöglichen. Obwohl er sich als Studiosus der Juristerei nicht sonderlich wohl fühlt, bringt es Jack nicht fertig, den Wunsch seines Ziehvaters mit einem Abbruch der Lehre zu torpedieren, zu sehr steht er in dessen Schuld.

Als sein alter Kollege Wigglesworth üblen Geschäften und bösen Intrigen des Kanzleichefs Covert auf die Spur kommt, die auch in Jack Engles Vergangenheit reichen, stellt dieser ihm unter Mithilfe seiner selbst involvierten Flamme Martha und anderen Freunden eine Falle. Eine Geschichte, die nach Charles Dickens schreit, aber eine typische amerikanische Erfolgsstory schreibt, stilistisch dem einige Jahre später wirkenden Henry James nicht unähnlich. Walt Whitman beherrscht die Kunst, zwischen dramatischen Wendungen und unbeschwert-subtilen Humor zu wechseln.

Realistische, mit einer feinen Feder gezeichnete Personencharakterisierungen sowie empfindsame Milieustudien von der Verarmung in der Metropole bis zur Wall Street-Skrupellosigkeit machen Jack Engles Leben und Abenteuer zu einem besonderen Lesevergnügen. Eine herausragende Passagen dieses Romans ist zweifellos Kapitel 19, in dem der 20-jährige Jack Engle einen Spaziergang über den Trinitiy-Friedhof unternimmt, Grabinschriften zitiert, über Leben und Tod sinniert und in allerschönste Melancholie verfällt. Walt Whitmans Jack Engles Leben und Abenteuer ist ein kleines, aber feines Bravourstück amerikanischer Literatur. Walt Whitman, der „Captain“ der amerikanischen Literaturgeschichte.

Walt Whitman: „Jack Engles Leben und Abenteuer“, Manesse Verlag, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli, Hardcover, 192 Seiten, 978-3-7175-2450-2, 22 €.

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