Szczepan Twardoch: Drach – Roman

Ein brillanter und epochaler Familien- und Geschichtsroman aus dem oberschlesischen Gleiwitz

von Gérard Otremba

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch gibt dem Planeten Erde eine Stimme. In seinem neuen Roman Drach ist es die Erde persönlich, die die Geschichte des oberschlesischen Bergarbeiters und Soldaten des Ersten Weltkrieges, Josef Magnor sowie seines Urenkels und Architekten Nikodem Gemander und ihrer Familie erzählt. Die Erde, „der große Drach“, sieht „alles“ und „alles gleichzeitig“ und springt in teilweise schwindelerregendem Tempo zwischen den Jahren und Personen hin und her. Mit dieser abrupten Montagetechnik fasst Twardoch ein ganzes Jahrhundert mit all seinen individuellen Dramen und Sehnsüchten zusammen und wird zum Chronisten des 1921 geteilten und nach 1945 ganz an Polen fallenden Oberschlesien. Ein Chronist Josef Magnor, der aus Eifersucht tötet und in einer Nervenheilanstalt eine achtzehn Jahre währende Schlaftherapie über sich ergehen lassen muss. Ein Chronist Nikodem Gemander, der durch eine Affäre das Leben seiner Familie zerstört.

Ebenfalls im Mittelpunkt steht die Geschichte Oberschlesiens, die eine zwischen Deutschland und Polen zerrissene war und sich in der Sprache niederschlägt, die mal Deutsch, mal Polnisch, mal Schlesisch, mal Slask, Schläsch oder mal Wasserpolnisch genannt wird, eine wilde Mixtur aus allem mit jiddischen Einschlag, „Je nachdem, in den Zeitungen heißt diese verwaschene Sprache unterschiedlich, je nach politischem Bedarf und Kontext.“ Doch ebenso ist Drach ein grandioser Roman über Identitätssuche und Herkunft des Einzelnen. Ein epochaler Familienroman genauso wie ein Roman über die Liebe, mit all ihren Verstrickungen. Doch wie dramatisch das (Liebes-)Schicksal für den Menschen auch sein mag, eins ist gewiss: „Verschlungen sind die Wege der menschlichen Liebe. Verworrener als die Rehliebe und Baumliebe. Alle aber führen an den gleichen Ort, zur Erde. Alles, was lebt, ist nur das Pulsieren der Erde.

Und die muss es wissen, schließlich ist sie die allmächtige Erzählerin dieses außergewöhnlichen Romans. Eines brillanten Romans über menschliche, immer wiederkehrende Tragödien, über Entstehung und Vergänglichkeit. Drach fordert den Leser intellektuell heraus. Die Kapitel sind mit diversen Jahreszahlen überschrieben, die für den Handlungsstrang von Bedeutung sind, die Übergänge fließend und abrupt und manchmal kann man ihnen kaum folgen. Doch ähnlich wie sein Roman Morphin ist auch Drach ein rauschhaftes Leseerlebnis und mag die Erde dem Menschen immer wieder seine Bedeutungslosigkeit vorhalten, Twardochs Romans ist es gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Drach ist ein Stück moderner Weltliteratur aus Gleiwitz, Oberschlesien.

Szczepan Twardoch: „Drach“, Rowohlt Berlin, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Hardcover, 416 Seiten, 978-3-87134-822-8, 22,95 €.

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