Nele Pollatschek: Das Unglück anderer Leute – Roman

Eine liebevoll-wütende, tragikomische  Abrechnung mit der Elterngeneration

von Gérard Otremba

Welch eine Familie! Die Familie von Thene, der 25-jährigen Oxford-Studentin. Eine Patchwork-Familie, in er es nur so wimmelt von sonderlichen Figuren, an vorderster Front Thenes Mutter Astrid. Unter ihr hat Thene mächtig zu leiden. Ihre Mutter-Antipathie manifestiert sich in Nele Pollatscheks Debütroman Das Unglück anderer Leute bereits auf der ersten Seite, auf der Thene offen ihren „Hass“ Astrid gegenüber ausspricht. Mit ihrem Vater Georg und ihrer Oma, Astrids Mutter Patrizia, ist sie auf dem Weg nach Oxford, um am nächsten Tag ihren Studienabschluss zu feiern. Wohlweislich hat sie ihre Mutter gar nicht erst in ihrer Nähe haben wollen, aus Angst, dass Astrid ihr am bisher wichtigsten Tag des Jahres die Show stiehlt. Denn Astrid steht immer im Mittelpunkt.

Im Alter von 50 Jahren versucht sie die Welt und viele Menschen zu retten, führt einen erfolgreichen Blog, verwickelt sich in zahlreiche Affären, kleidet sich in auffälligen Rottönen, kommt immer zu spät, hat nie für Thene Zeit, ist streitsüchtig, aufbrausend, hinterhältig und seit Jahren auf einem Selbstverwirklichungs-Ego-Trip. Nur dem Einschreiten ihres Vaters, der die Familie verließ als Thene neun Jahre alt war und einige Jahre später seine Homosexualität offen auslebte, hat Thene Astrids Anwesenheit in England zu verdanken. Auf der Autobahn von Heathrow nach Oxford möchte sie abgeholt werden, ein vormals ausgelebter Tick, der ihr diesmal zum Verhängnis wird, indem ein Lastwagenfahrer sie erfasst und Astrid zu Tode kommt.

Das Unglück anderer Leute der 1988 in Ost-Berlin geborenen Nele Pollatschek beginnt als herrliche Komödie und erfährt auf Seite 60 die ersten tragischen Züge. Sowohl Thene, als auch die Leser müssen sich einmal schütteln, dann geht der ironische Spaß, den uns Nele Pollatschek bietet weiter. Nachdenklicher zwar, melancholischer, gewiss, doch hat die im Odenwald lebende Jungautorin noch die eine oder andere, verblüffende und urkomische Figur anzubieten. Wie zum Beispiel Ralf, der Vater von Thenes Halbbruder Elijah, der als ultrakonservativer jüdisch-orthodoxer Menechem auftritt. Oder Liesel, Thenes Oma väterlicherseits, die ein gewisses Alkoholproblem nicht verbergen kann und kurz davor steht, ihren Mann Karl umzubringen.

Thene, aus deren Perspektive Nele Pollatschek die Geschichte erzählt, ist zwar manchmal eine furienhafte Dampfplauderin, die kein Blatt vor den Mund nimmt und außerdem ihr Hochschulwissen en passant mit einbringt, doch ist ihre Abrechnung mit der sich permanent selbstdarstellenden Elterngeneration nicht nur eine wütende und  anmaßende, sondern auch stets liebevolle und mit einem ironischen Augenzwinkern vorgebrachte. Am Ende artet Das Unglück anderer Leute in eine große Groteske aus, der Woody Allen-Humor trifft auf den makaberen Witz von Monty Python. Ein schier wahnsinniges Vergnügen. Und merke: Das Unglück anderer Leute ist auch immer ein Stück weit dein eigenes. Und der Familie kannst du nicht entkommen, noch nicht einmal im Tod.

Nele Pollatschek: „Das Unglück anderer Leute“, Galiani Berlin, Hardcover, 224 Seiten, 978-3-86971-137-9, 18,99 €.  

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Kommentar schreiben