Sabine Hunziker: Flieger stören Langschläfer – Roman

Das Leben ist eine Baustelle

von Gérard Otremba

Judith hat das Studium der Religionswissenschaften abgeschlossen und schreibt an ihrer Dissertation über die Bedeutung des Schattens im Alten und Neuen Testaments. Eigentlich. Doch wie das Leben so spielt, kommt ihr eben jenes in die Quere und so vermischen sich alsbald persönliche Eintragungen mit wissenschaftlichen Ergebnissen in ihrem Forschungstagebuch. Bald allerdings entfernt sich die knapp 30-jährige Judith immer mehr von ihrer ursprünglichen Absicht und ist nur noch damit beschäftigt, ihr eigenes Leben zu dokumentieren.

„Ich lasse mich jetzt immer mehr zu verschiedenen Verlockungen hinreissen. Die Studien verschieben sich. Nach Monaten bin ich vor ursprünglichen Plan so weit abgewichen, als hätte er nie existiert.“

Judith wohnt mit Abel in einem abbruchreifen Haus, einer Art Villa Kunterbunt für nicht erwachsen werden wollende, in dem ein „Haufen Linkspolitischer, Alternativer oder jedenfalls Neutraler und Verrückter lebt“, in der Berner Innenstadt zusammen, mit dem sie einst liiert war, aber nach dessen treulosen Eskapaden hat Judith Agnes in die Beziehung eingeführt und so leben sie eine offene Ménage à trois. Abel ist bekennender Nihilist, der lethargisch ständig über seine Minderwertigkeitskomplexe stolpert, während sich Agnes überbordend ins Leben stürzt, aber an Schizophrenie leidet. Überaus spartanisch leben sie von Judiths Stipendium und haben sich an ihren Gegenentwurf zu konventionellen Lebensstilen und der rastlosen Zeit unserer Tage gewöhnt. Jedenfalls Judith und Abel, Agnes hingegen begegnet den beiden aus Judiths Sicht durchaus mit einer gewissen Skepsis.

„Sie versteht uns nicht. Wir sind gesund und haben viele Möglichkeiten und trotzdem leben wir dieses Leben in verschimmelten Buden. Sie an unserer Stelle wäre irgendwo anders, denkt sie. Agnes versteht uns im Grunde genommen nicht. Wir werfen unser Leben weg – in ihren Augen. Weil wir uns drücken vor der Welt du uns in unserer Fantasiewelt drehen. Wir haben’s nicht gepackt und sogar weit von uns geworfen, teils sogar absichtlich.“

Damit dieser Zustand nicht ewig währt, trifft Judith wegweisende Entscheidungen. „Fliegen stören Langschläfer“ ist der Debütroman der 1980 in Bern geborenen Autorin und Journalistin Sabine Hunziker, der neben seiner makellosen Lakonie mit feinen Beobachtungen, pointierten Dialogen und treffsicheren Wahrheiten besticht.

„An Platten mag ich, dass sie im Unterschied zur heruntergeladenen Musik eine Einheit bilden. Die Lieder gehören zusammen und können höchstens übersprungen, nicht aber auseinandergerissen werden, indem man sich nur für einzelne Songs entscheidet. Die Künstler haben ihre Arbeit oft unter ein Thema gestellt. Bewusst hört man diese Musik, sie ist kein Hintergrund, da man ja auch alle zwanzig Minuten die Seite der Platte umdrehen muss.“

„Fliegen stören Langschläfer“ ist prädestiniert für alle, die der Schnelllebigkeit unserer Zeit entfliehen möchten und wenigstens für die Dauer der Lektüre in der Lage sind, ihre Smartphones auszuschalten. Sabine Hunzikers Roman zeigt, dass das Leben zwar eine Baustelle ist, man aber trotzdem glücklich werden kann. Ein vielversprechendes Debüt.

Sabine Hunziker: „Fliegen stören Langschläfer“, Septime, Hardcover, 168 Seiten, 978-3-902711-52-6, 17,90 €.

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