Dorothy Baker: Zwei Schwestern – Roman

Eine überzeugende literarische Wiederentdeckung

von Gérard Otremba

Cassandra und Judith Edwards sind eineiige Zwillinge, gleichen sich aufs Haar und achteten in ihrer Vergangenheit immer penibel darauf, nicht auch noch dieselbe Kleidung zu tragen, durchaus von ihren intellektuellen Eltern, einer Schriftstellerin und eines Philosophieprofessors, zu individuellen Ausprägung des Charakters ermutigt. Zeit ihres Lebens abgeschottet auf einer Ranch lebend, existierte für die beiden nur die Familie und es entwickelte sich eine extrem enge Bindung aneinander. Versuche, sich voneinander abzukoppeln scheiterten, und besonders Cassandra kann ohne Judith nicht leben. Sogar einen Bösendorfer-Flügel leisten sich beiden als Zeichen ihrer Verbundenheit und schmieden Pläne, nach Paris zu gehen.

Doch die Träume zerplatzen, als Judith von der Westküste nach New York zieht und nur ein Jahr später einen Arzt ehelichen möchte. Die in Berkeley Literatur studierende Cassandra reist einen Tag früher zur Hochzeit ihrer Schwester auf der elterlichen Ranch an, die seit dem Tod der Mutter von ihrem Vater und ihrer Oma bewohnt wird. Das Drama um Cassandra nimmt seinen Lauf, als sie feststellt, dass sie als Brautjungfer das gleiche Kleid gekauft wie Judith als Braut. Cassandra versucht in Gesprächen alles, um Judith von der anstehenden Hochzeit abzuhalten, ihre Liebesbekundungen Judith gegenüber sind durchaus inzestuöser Art, doch ihre Worte finden bei ihrer Schwester kein Gehör und so versucht Cassandra sich mit einer Überdosis Tabletten das Leben zu nehmen.

An dieser Stelle endet der erste von zwei aus der Sicht Cassandras erzählten Teile aus Dorothy Bakers 1962 erschienenen Roman Zwei Schwestern. Im Mittelteil setzt Judith, die ihre Schwester mit Hilfe ihres Arzt-Gatten rettet, die Geschichte fort, bevor zum Schluss wieder Cassandra übernimmt. Obwohl Cassandra also wieder unter den Lebenden weilt, hängen unheilvolle Suizidmetaphern wie ein Damoklesschwert in ihrem Kopf, gleich dreimal wird die Golden Gate Bridge, ein beliebter Ort für potentielle Selbstmörder, von ihr erwähnt. Trotz dieser düsteren Aussichten ist Zwei Schwestern ein durchaus humoriger und ironischer Roman, der mit Cassandra Edwards eine 24-jährige, aufbegehrende, temperamentvolle und sich gegen gesellschaftliche Zwänge wehrende Protagonistin zum Mittelpunkt erhebt.

Es ist ein ähnlich die Konventionen brechender Roman wie Cocktails von Pamela Moore, allerdings mit der stilistischen Reife einer 55-jährigen Autorin, deren drei vorherige literarische Werke nur mittelprächtigen Anklang fanden, während Moore neben der stilistischen Brillanz mit ihrem jugendlichen Furor punktet. Dorothy Baker, die 1968 an Krebs verstarb, versteht es meisterhaft, ihre Figuren psychologisch auszuloten und originelle Dialoge zu schreiben. Die humoristische Seite des Buches changiert zwischen subtil und beißend, der Plot ist hintersinnig und feinfühlig austariert. Zwei Schwestern wühlt auf, erheitert, stimmt nachdenklich und ist eine ganz und gar überzeugende literarische Wiederentdeckung.

Dorothy Baker: „Zwei Schwestern“, dtv, aus dem Amerikanischen übersetzt von Kathrin Razum, Hardcover, 978-3-423-28059-4, 19,90 €.

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