Katharina Hartwell: Der Dieb in der Nacht – Roman

Mysteriös, unergründlich und faszinierend

von Gérard Otremba

Eines Tages verschwindet der 19-jährige Felix spurlos. Kein Abschiedsbrief, nichts, ein Rätsel für alle ihm Nahestehenden. Es war in den Ferien nach dem Abitur, er wollte nur mal schnell Getränke an der Tanke holen und kehrte nicht mehr zurück. Zehn Jahre später begegnet Paul, Felix‘ ehemals bester Freund, in einer Prager Bar einen sich Ira Blixen nennenden Künstler. Im Prinzip sieht er Felix nicht wirklich ähnlich, aber es ist Blixens Aura, die Paul gefangen nimmt und an Felix erinnert. Und Ira Blixen kann sich nicht an seine Vergangenheit erinnern, nachdem er vor Jahren aus der Moldau gefischt worden ist. Paul kehrt verwirrt und aufgewühlt in seine Heimatstadt Berlin zurück und wenige Tage später steht Blixen vor seiner Tür und zieht bei ihm ein. Obwohl Felix’ Schwester Louise zunächst keine Gemeinsamkeiten mit ihrem Bruder erkennen kann, projiziert auch sie bald die Möglichkeit ihres Bruders auf Ira Blixen, der sich seinerseits scheinbar nun doch an vereinzelte Fragmente seines früheren Lebens als Felix erinnern kann und mit seinem undurchsichtigen Verhalten für Irritationen sorgt. Nur Felix‘ Mutter Agnes schließt die Familienbande aus, kann sich aber Blixens mysteriöser Erscheinung ebenfalls nicht entziehen.

Die 31-jährige, in Köln geborene und in Berlin lebende Schriftstellerin Katharina Hartwell spielt in ihrem zweiten Roman Der Dieb in der Nacht geschickt und auf faszinierende Art und Weise mit den Themen Identität, Wirklichkeit und Wahrheit. Dabei lässt Hartwell in diesem teilweise beklemmenden kammerspielartigen Szenario obsessive Protagonisten aufeinander los und in der Person von Paul treibt sie es auf die Spitze, dessen krankhafte Felix-Manie unterschwellige homoerotische Züge trägt. Der Roman trägt mysteriöse, unergründliche und bedrohliche Züge, eine Spur Edgar Allan Poe und eine Prise David Lynch gepaart mit Anleihen von Patricia Highsmiths Tom Ripley-Geschichten. Der Dieb in der Nacht ist perfekt von Katharina Hartwell konstruiert, die sich von einer Dokumentation über das Verschwinden und vermeintliche Wiederauftauchen des 13-jährigen Nicholas Barcley zu diesem Roman inspirieren ließ. Düster, aber spannend.

Katharina Hartwell: „Der Dieb in der Nacht“, Berlin Verlag, Hardcover, 978-3-8270-1279-1, 20 €. 

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