Rolf Lappert: Über den Winter – Roman

Ein leiser, unaufdringlicher und bewegender Familienroman

von Gérard Otremba

Im Prinzip setzt uns der Schweizer Autor Rolf Lappert in seinem neuen Roman Über den Winter ein trostloses Setting vor. Hamburg im Winter. Es ist kalt, sehr kalt. So kalt, dass sogar die Außenalster während des Handlungsverlaufs einfriert, ein nicht allzu häufig auftauchendes Phänomen in der Hansestadt, die ein durch und durch tristes Romanbild abgibt, der Stadtteil Wilhelmsburg zur heruntergekommenen Eintönigkeit verdammt. Der Grund für die Heimkehr des Protagonisten Lennard Salm in die Elbestadt ist noch deprimierender, ist doch seine ältere Schwester Helene im Alter von 52 Jahren an einem angeborenen Herzfehler gestorben und ihre Beerdigung der Anlass für ein familiäres Treffen. Der 49-jährige Aktions- und Konzeptkünstler Lennard Salm unterhielt in den letzten Jahren nur wenig Kontakt zu seiner Familie, die längst auch keine mehr ist.

Die Eltern seit Ewigkeiten getrennt, die Mutter in Florida lebend, der fast erblindete Vater auf die Hilfe der polnischen Pflegerin und Freundin Bascha angewiesen, die jüngere Schwester Bille verliert ihren Job als Theaterregieassistentin, lediglich Lennards Bruder Paul lebt mit seinen Angetrauten ein Familienidyll in Lübeck. Die Kommunikation zu seiner Schwester Bille funktioniert noch relativ gut, eine Annäherung zu seinem Vater gelingt Lennard ebenfalls, indem er bei ihm und Bascha in die alte Wilhelmsburger Wohnung einzieht. Die Konfrontation mit der Vergangenheit und ein Füllhorn an Erinnerungen setzt in Lennard Salm einen Wandlungsprozess in Gang, weg vom einzelgängerischen Künstlerdasein, hin zum Familienmenschen.

Rolf Lappert hat mit Über den Winter einen leisen, unaufdringlichen, zarten und analogen Roman geschrieben, ganz in der Erzähltradition eines Siegfried Lenz. Er mag so gar nicht in die heutige, digitale Internet-Zeit passen, dieser Roman, in dem Schalplatten aufgelegt und sogar Musikkassetten gehört werden. Ein Roman, der auf die Atmosphäre von Leonard Cohen und Joni Mitchell-Musik setzt und nicht am legendären Köln-Konzert des Jazz-Pianisten Keith Jarrett vorbeikommt. Ein Roman, in dem auch fast 50-Jährige noch kiffen und sich dessen nicht schämen müssen und in dem die Hauptperson mehr oder weniger auf das benutzen eines Handys verzichtet. Neben einer gewissen norddeutschen Spröde vermittelt Rolf Lappert in Über den Winter tiefste menschliche Wärme. Ein sanfter, melancholischer, manchmal bedrückender, ausgesprochen bewegender und meistens tröstlicher Roman über die Sinnsuche eines mitten im Leben stehenden Menschen. Völlig zu Recht steht Über den Winter auf der Short-List des Deutschen Buchpreises 2015.

Rolf Lappert: „Über den Winter“, Hanser Verlag, Hardcover, 978-3-446-24905-9, 22,90 €.

Kommentare

  • <cite class="fn">Constanze Matthes</cite>

    Ich glaube, das ist ein Roman ganz nach meinem Geschmack. Ich mag die ruhigeren, unaufdringlichen Geschichten und mir hat bereits Lapperts Roman „Nach Hause schwimmen“ sehr gut gefallen. Also Pflichtlektüre!

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