Szczepan Twardoch: Morphin

Ein rauschhafter, nervenaufreibender und irrsinnig gut erzählter Roman

von Gérard Otremba

„Schwere Kost“, urteilte Vitali Klitschko in einer Werbung über Leo Tolstoi. Leicht hat es der polnische Autor Szczepan Twardoch dem Leser auch nicht gemacht. Sein Opus Magnum Morphin ist ein auf knapp 600 Seiten ausgelegtes, faszinierendes und doch immer wieder verstörendes und durchaus auch schwer zugängliches Werk. Die Geschichte des 30-jährigen Konstanty Willemann ist im „vergewaltigten“ Warschau des Jahres 1939 angesiedelt. Willemann, ein Bonvivant, ein Dandy, Schlesier, deutsch-polnischer Herkunft, der sein Leben in den Kaffeehäusern Warschaus an der Seite der Bohème verbringt, außerdem Frauen mag, mit einer davon verheiratet ist, einen Sohn mit ihr hat, und regelmäßig der Prostituierten Salomé, kurz „Sala“, Besuche abstattet, gerät in einer Krise. Hitlers Überfall auf Polen, der knapp zweiwöchige „Blitz-Krieg“, in dem Willemann für das polnische Heer als Leutnant diente, bringt sein Leben aus dem Gleichgewicht.

Zuflucht findet er aber nach wie vor bei Sala, „diese merkwürdige, rothaarige Jüdin oder Russin, ich weiß nicht genau, nicht sie sah ich an, diese Quasikünstlerin, Muse und Bacchantin, Mänade, von der Witkacy mir einmal gesagt hat, sie sei eine heilige Nutte und über ihren Körper laufe der Champagner wie über keinen, nicht sie saß vor mir, sondern die kondensierte Weiblichkeit“, wie Konstanty ihr ersten Treffen zusammenfasst, sowie dem Rauschzustand nach der Einnahme der Opiats Morphin. Das dem Roman titelgebende Schmerzmittel versetzt Konstanty Willemann in einen wahnhaften Zustand, den er aus dem realen Leben durchaus von seiner Mutter kennt, die ihn mit Forderungen, wie „denk daran, dich jetzt mit vielen Frauen zu paaren, such dir die Wollüstigen, Geilen und Verdorbenen, Fötzchen, die viele männliche Glieder beherbergt haben, reine Frauen rühr nicht an, vor Jungfrauen hüte dich wie vor dem Feuer, Jungfrauen saugen deine Manneskraft aus. Dein Polentum verlangt Gülle, verlangt Jauche als Dünger, nicht die unfruchtbare Weiblichkeit der Jungfrauen“ konfrontiert.

Auf diese direkte, offene und schonungslose Sprache muss sich der Leser einstellen und es offenbart sich ihm ein gewaltiger Roman über das Leben, mit den entscheidenden Themen Eros, Thanatos und Philosophie. Konstanty Willemann schließt sich einer dubiosen Widerstandsbewegung an, wird dort zum Offizier der Aufklärung ernannt, seine deutsche Herkunft vereinfacht ihm anschließend die Verwandlung in einen Feldpolizeikommissar des Reiches. Morphin ist die Geschichte eines tragischen Helden, denn das ist Konstanty Willemann zweifellos. Doch er bleibt nicht allein. Nahezu allen mit Willemann in Kontakt tretenden Personen ist ein schweres Schicksal vorgezeichnet. Morphin von Szczepan Twardoch ist ein ehrliches, brutales, nervenaufreibendes Buch über eine Zeit, die keiner mehr erleben möchte. Ein opulenter, wahn- und rauschhafter Roman, überragend konstruiert, wahnwitzig und irrsinnig gut erzählt.

Szczepan Twardoch: „Morphin“, Rowohlt Berlin, Hardcover, 978-3-87134-779-5, 22,95 €.  

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